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Volkmar Wirth 

 

 

In den Tiefen des Alltags


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18.07.2022

ZUG

Sag noch einer, dass wir leben nicht in verrückten Zeiten. Eine einst friedensbewegte Partei wird nicht müde, um für schwere Waffen zu plädieren. Und Staatsoberhäupter entdecken die Zugfahrt für sich.

Apropos Zugfahrt. Vor einigen Tagen saß ich in einer Regionalbahn Richtung Küste. Nach drei Stunden, die die ältere Frau neben mir schweigend über einem Rätselheft gebeugt verbrachte – ohne recht, ähnlich wie der Zug, vorwärtszukommen, sprach mich die Frau an. „Sonst fliege ich ja solche Strecken, aber wegen diesem Tankrabatt dachte ich mir, versuche ich es doch mal mit dem Auto.“

Ich war hin- und hergerissen. Ab wann kippt ein freundlich gemeinter Widerspruch zu einem unverschämten Grenzübertritt?

„Sie meinen sicher“, wagte ich mich aus der Deckung, „wegen dem 9-Euro-Ticket.“
„Nein“, sagte die Frau, „ich meine den Tankrabatt.“
„Aber.“
„Moment“, unterbrach mich die Frau und schaute ungläubig aus dem Fenster. Zumindest versuchte sie das. Doch da der Zug bis zum letzten Stehplatz gefüllt waren, konnte man weder Kühe auf Weiden noch verschmierte Fenster sehen. Die Frau griff nach meiner rechten Hand und hauchte: „Sitze ich jetzt wirklich in einem von diesen überfüllten, stinkenden und überaus langsamen Zügen?“
Ich nickte eifrig und legte meine linke Hand auf ihre. „Und das alles für schlappe 9 Euro!“
Die Frau zog ihre Hand weg, wendete sich wieder ihrem Rätselheft zu und brummte: „Und ich Dummchen wundere mich die ganze Zeit, was die vielen Menschen in meinem Auto suchen.“



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