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Volkmar Wirth 

 

 

In den Tiefen des Alltags


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14.08.2022

KREUZUNG

Wenn ich nach Hause fahre, mache ich gern einen Abstecher in einen Zeitungsladen. Wer weiß, wie lange es solche Geschäfte noch gibt. Dort genieße ich den Geruch des Papiers und studiere die Titelseiten der Tageszeitungen. Manchmal kaufe ich mir auch eine Zeitung, obschon ich die bereits in meiner Mittagspause am Rechner gelesen habe. Gestern sprach mich die Verkäuferin an.
„Glauben Sie an Gott?“, wollte sie wissen.

Ich war überrascht. Bisher hatte die Frau mit mir keine drei Worte gewechselt. Und jetzt schlug sie einen existenziellen Diskurs an. „Wie bitte?“, fragte ich.
„Ob Sie an Gott glauben, wollte ich wissen?“
„Gibt es den Vatikan-Kurier heute umsonst?“ Obwohl ich meine Bemerkung mit einem Augenzwinkern schmückte, rührte sich die Verkäuferin nicht. Soweit ich weiß, lockt der Vatikan-Kurier mit keiner Vergünstigung, weil es das Blatt gar nicht gibt. Aber das schien die Verkäuferin nicht zu wissen. Oder sie wollte es nicht wissen. Oder sie wusste es, schien es jedoch auszublenden. Menschen sind wie Tageszeitungen. Oberflächlich betrachtet gleichen sie sich alle. Beim genaueren Blättern unterscheiden sie sich doch voneinander.

„Bis heute früh habe ich nicht an Gott geglaubt“, sagte die Frau. „Ich hatte einfach keinen Grund. Dann aber wurde ich vorn an der Kreuzung fast überfahren.“

Mit einer endlosen Pause gab mir die Verkäuferin Zeit, dass ich mir den Crash ausmalte. Kaum hatte ich alle Tuben mit den roten Farben ausgedrückt, erzählte die Frau schon weiter.

„Aber der Fahrer hat mich rechtzeitig gesehen. Obwohl er betrunken war. Ich konnte seine Fahne riechen, als er mich durchs offene Fenster beschimpfte. ‚Blöde Kuh!‘, war noch liebevoll.“
Die Verkäuferin schluckte. Vielleicht würgte sie an dem ganzen Müll, den sie sich anhören musste. „Meine Rettung verdanke ich Gott. Wem sonst? Der Mann führte nur aus, was lange fest stand. Und Sie? Wie ist das mit Ihnen? Glauben Sie an Gott?“

Ich schwieg. So hatte ich mir meinen Feierabend nicht vorgestellt. „Als ich vor einem Monat mal wieder auf dem OP-Tisch lag“, überraschte ich mich selbst, „habe ich kurz an Gott gedacht. Er möge bei mir sein. So was von der Art.“
„Und? War er bei Ihnen?“
„Ja und nein. Als ich aufwachte, schwebte eine ziemlich fiese Fratze über mir. Zwei Hörner auf dem Kopf, Fledermausohren und ein Mund, aus dem Blut tropfte.“
„Sagen Sie jetzt nicht, Sie haben Gott gesehen!“
„Es war das Gesicht der Krankenschwester, die wissen wollte, ob es mir gut geht. Und trotzdem. Wie soll ich sagen? Natürlich war es die Nachwirkung der Narkose, dass ich erst eine Fratze sah. Wie bei einem Wein, der einen langen Abgang hat. Also wer sagt mir, dass ich nicht doch für einen Moment Gott gesehen habe?“

Ich bezahlte und ging zur Tür. Ich bezweifelte, heute noch Zeitung zu lesen. Das Gespräch hatte an meinen wenigen Grundfesten gerüttelt. Und war ich nicht längst in einem Alter, wo jeder vernünftige Mensch seine Patientenverfügung überarbeitet und endlich an seinem perfekten Auftritt im Himmel bastelt?
„Bis morgen!“, rief die Verkäuferin mir nach. „Und passen Sie an der Kreuzung auf!“



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