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Volkmar Wirth 

 

 

In den Tiefen des Alltags


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17.09.2022

WARTEZIMMER

Von der Decke tröpfelt Mozarts Musik. Zur Beruhigung oder zum Abschalten. Bevor es die Überweisung ins Krankenhaus gibt, noch ein paar Takte aus der Klavierfantasie in D-Moll. Und das auf Kosten des Hauses. Oder ist das etwa das Requiem? Was aber die kleine Nachtmusik angeht, die hat schon jeder Diagnose den Stachel gezogen. Hier läuft keiner Amok.

Auf den Stühlen die Patienten. Die grauen Haare kurz geschnitten. Und die längeren Haare frisch blondiert. Über den Hosenbünden und in den Blusen drängen die Reserven. Es ist Vormittag, die Zeitungen geben sich unverbraucht. Auf den freien Stühlen ein altersloser Herr. Erschöpft schaut er umher, als wüsste er, was in der morgigen Zeitung steht. Und was da steht, langweilt ihn.

Als würde es sich um eine Person handeln, erklärt die Krankenschwester einer Frau, dass sie hier keine Patientin wird und bittet eine andere um Geduld. „Selbst wenn wir es wollten, können wir keine neuen Patienten aufnehmen. Bitte haben Sie Verständnis. Und ja jeder wird aufgerufen. Die Reihenfolge bestimmt nach wie vor der Arzt.“

Einzig der Mann, der ohne Alter scheint, wird nicht aufgerufen. Und trotzdem verfolgt er bei jeder Visite die Auswertung des Blutbildes und lauscht den Hinweisen zur Einnahme neuer Medikamente. Aufmerksam nimmt er Anteil, wenn der Arzt einer älteren Patientin die nächste Lungenimpfung für 2026 vermerkt. Für einen Moment verdreht unser Herr die Augen. Das findet er dann doch zu komisch. „Was denken sich die Menschen eigentlich? Mach einen Plan und ich lach mich tot! Deshalb zum Mitschreiben: Jeder hat seinen Termin und jeder wird aufgerufen. Und die Reihenfolge bestimme wie immer ich.“

Als die letzten Patienten gegangen sind, verschließt die Krankenschwester die Praxis. Da ist der Herr lange schon unterwegs. Obwohl er müde ist, hat er vor allem nachts viel zu tun.



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