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Volkmar Wirth 

 

 

In den Tiefen des Alltags


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16.11.2022

NEU

Seit Jahren bin ich Leser der Stadtbibliothek. Dass mein Ausweis von Anfang an nicht richtig richtig funktionierte, gehörte irgendwie dazu. Natürlich störte es mich maßlos, wenn ich eine halbe Stunde vor dem Bildschirm verbrachte, um meine Bücher für die Registrierung zu scannen. Denn bis es soweit war, musste erst einmal der Ausweis vom Scanner akzeptiert werden. Aber ich hatte mich daran gewöhnt und immer etwas mehr Zeit mitgebracht.

Es gab Zeiten, da suchte ich die Buchhallen einmal in der Woche auf. Und dann gibt es Zeiten, da bin ich einmal im Jahr dort. In den letzten beiden Jahren war ich gar nicht mehr dort. Erst war wegen der Pandemie geschlossen. Man wollte vermeiden, dass sich die Bücher mit dem Virus anstecken. Danach hielt mich der Umstand fern, dass man jede Sitzmöglichkeit entfernt hatte. Doch eine Bibliothek ohne Stühle oder Sessel ist für mich ein Unding. Das wäre wie in einem Museum, das ohne die freundlichen Damen und Herren auskommt, die mich lautstark maßregeln, wenn ich dem Gemälde zu nahe komme.

Durch meine Auszeit musste ich mich neu anmelden. Ich bekam nicht nur einen neuen Ausweis, sondern die Mitarbeiterin der Bibliothek erklärte mir auch die Haus- und Leihordnung. Nach Paragraf neunundzwanzig meldete ich mich vorsichtig zu Wort. „Danke“, sagte ich, „aber ich bin seit über zwanzig Jahren Leser Ihres Hauses. Ich weiß ...“
„Das kann nicht sein“, fuhr mich die Frau an. „Vor zwanzig Jahren habe ich noch in Jena studiert.“
Obwohl ich den Zusammenhang zwischen der schönen Stadt in Thüringen und meiner Treue zum Bücherhaus nicht verstand, schwieg ich. Ich muss nicht alles verstehen. Manchmal verlieren Dinge, die ich nicht verstehe, mit der Zeit ganz allein ihre Bedeutung. Das dies damit zusammenhängt, weil ich es nicht verstanden habe, ist mir wiederum zu hoch.
Als die Frau ihren Katalog abgearbeitet hatte, atmete nicht nur die auf. „Haben Sie noch Fragen?“
„Ja“, sagte ich. „Wenn Sie mir bitte noch einmal den Paragrafen hundert siebenundneunzig erläutern könnten.“

Als ich schließlich meine Bücher registrieren wollte, erlebte ich ein Déjà-vu. Egal wie und wie oft ich den Ausweis über den Scanner schob, es passierte nichts. Ohne zu zwinkern stierte das rote Auge vor sich hin und sah doch nichts.
Da sich auch in solchen Stresssituationen mein helles Köpfchen selten verdunkelt, erkannte ich zwei Möglichkeiten. Entweder ich lasse die Bücher links liegen und verlasse das Haus ohne Lesestoff. Oder ich bitte die Frau um Hilfe.
Natürlich erkannte der Scanner meinen Ausweis sofort. Kaum hatte die Frau das Kärtchen in die Hand genommen, schon gab das gemeine Rotauge mit einem Piepton zu verstehen, dass alles in Ordnung ist. „Das kommt vor“, tröstete mich die Frau. „Wenn man neu ist und sich hier noch nicht richtig auskennt, passiert das schon mal.“



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