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Volkmar Wirth 

 

 

In den Tiefen des Alltags


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15.01.2023

ERFAHRUNG

Die letzten drei Jahre habe ich mit einer auffallenden Konsequenz stets einige Vorweihnachtstage im Krankenhaus verbracht. Kaum hatte ich das Novemberblatt vom Kalender 2022 abgerissen, träumte ich mit einem romantisierenden Blinzeln, was mir dieser Dezember für Bescherungen bringt. Den Weihnachtsabend in einem lauschigen Zweitbettzimmer? Den obligatorischen Glühwein nicht nur am Bett, sondern in der Schnabeltasse? Und die spendablen Weihnachtsfrauen beschenken selbst jene Patienten, die weder ein Gedicht aufsagen noch ein Lied trällern?

Als der dritte Advent ins Haus stand und ich noch immer daheim auf dem Sofa lungerte, wurde ich unleidlich. Hatte man mich vergessen? Hatte ich das dem Lauterbach zu verdanken? Beim vierten Advent warf ich entnervt alle Hoffnungen aus dem Fenster und ignorierte erboste Wortmeldungen von Passanten. Bleibe ich halt zu Hause, sagte ich mir. Und am Weihnachtsabend dachte ich schon gar nicht mehr ans Krankenhaus. Warum auch? Ich erfreute mich der bunten Lichterkette, die ich elegant um meinen geschmeidigen Körper gelegt hatte. Selbst der Tannenbaum hatte, wie ich fand, einen perfekten Platz auf meinem Kopf gefunden.

So war meine Überraschung groß, als mir mein Arzt zwei Tage vor Silvester bescheinigte, sofort den Hort meiner heimlichen Wünsche aufzusuchen. Und als Genussgipfel traf der Mann in Weiß die fulminante Entscheidung, dass ich mich am vorletzten Tag des Jahres 2022 dem Messer hinzugeben habe.

Somit kam ich zwar nicht in den Genuss, den Weihnachtsnachmittag bei lauwarmen Pfefferminztee und eifrigem Verbandswechsel zu erleben, aber ins neue Jahr mit einem Schälchen Heringssalat ohne Fisch und einer mehrstündigen Blutwäsche zu begehen hat ebenfalls seine Reize.



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