flaschenpost-leipzig

Volkmar Wirth 



                               Dezember 2023              Der Mann hatte es sich bequem gemacht. Mühelos nahm er beide Sitzschalen für sich ein und seine Beine ließen erst gar keinen Zweifel, dass der Mann hier zu Hause war: weit auseinander gelagert gleich jenem Herrscher, der allein durch die provokante Spreizung seine Schenkel und Knie den Anspruch zumindest auf die Welt verdeutlichte. In Ermangelung freier Plätze, setzte ich mich demonstrativ auf die winzige verbliebene Enklave*.

Ich saß, wenn auch wenig gemütlich.

Um auf meinen prekären Umstand (Umsitz?) hinzuweisen, fragte ich meinen Nachbarn, ob er genügend Platz hätte. Der Mann zuckte zusammen, brummte ein Ja und zog sich spürbar zurück. Er drückte die Knie zusammen, seine Ellenbogen ragten nicht mehr in den Gang hinaus und sein Oberkörper verlor an Umfang. Sogar sein Gesäß schrumpfte merklich. So bekam ich endlich eine verträgliche Sitzhaltung.

Wenn auch nicht lange.

Keine zwei, drei Stationen später hatte der Mann, in schleichender Konsequenz, seine bewährte Position wieder eingenommen. Die Macht der Gewohnheit gab den Ton an und das noch präsenter, noch statischer als zuvor. Ich bemerkte seine Metamorphose, indem ich mich erneut auf der äußerten Seite des Doppelsitzes fand. Mehr noch, das rechte Bein des Mannes ruhte wärmend an meinem linken Bein und sein Ellenbogen bohrte sich ungeniert, dafür ausdauernd in meine Seite.
*) Woher kommt das Bedürfnis, zu sitzen, wenn ich doch zuvor acht Stunden geschlafen, also gelegen habe?






                                 21.05.2023                     Gestern meldeten einige Zeitungen, dass der WAZ-Verleger G. Grotkamp nach langer Krankheit im Kreise seiner Familie gestorben ist. Immer wenn eine Persönlichkeit des öffentlichen Interesses gestorben ist, heißt es, dies sei im Kreise seiner Familie geschehen.
Wie habe ich mir das vorzustellen? Im Kreise der Familie.

Heißt dass, dass die werdende Witwe ihre Tochter in Darmstadt und ihren Sohn in Florida, ihre beiden Enkel in Anklam und Tunis, den zerstrittenen Bruder des Verstorbenen und die langjährige Freundin in Berlin anruft, um all denen mit schwacher Stimme mitzuteilen, dass es der Vati, der Opa, der Bruder und der Freund nicht mehr lange machen wird? Und steht wenig später die illustre Mannschaft am Bett des Sterbenden und hofft darauf, dass wer das Fenster öffnet?

Manchmal heißt es auch, der Verstorbene sei in den Armen seiner Frau gestorben. Selbst wenn das hin und wieder zutrifft, bietet mir die Szene doch etwas zu viel Dramatik. Alle Opernfreunde wissen zu gut, wie ewig sich solch ein Sterben hinziehen kann: Der im nebligen Morgengrauen mit einem Degen verwundete König hat sich im Schoß seiner Frau gemütlich gemacht und während seine Majestät wie verrückt blutet, trällert er noch bei untergehender Sonne ein Lied nach dem anderen.  




                                  23.04.2023                        Zum 80. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto durfte letzten Mittwoch der Bundespräsident nicht nur an der Veranstaltung teilnehmen, die Gastgeber gewährten ihm auch eine Rede. 

(Bundeskanzler Brandt war dies vergönnt. Ihm war es am 7. Dezember 1970 nicht gestattet zu sprechen, er gewährte man lediglich das Knien. Hätten seine Gastgeber geahnt, welche Wellen diese Geste am Ehrenmal des Warschauer Ghettos schlagen würden, sie hätten ihm sicher jede Redezeit genehmigt, die Brandts Sekretäre wollten.)

Bei seiner Ansprache trug der Bundespräsident eine gelbe sechsblättrige Blume am Revers. Auch die anderen Gäste hatten sich so geschmückt. Finde ich den Mummenschanz, den viele der Beteiligten bei derartigen Treffen betreiben, indem sie KZ-Kleidung tragen, befremdlich, packte mich das Entsetzen, als ich die Blumen sah. Warum müssen alle mit dem Judenstern herumlaufen? (Dass die Insassen des Ghettos keinen Stern, sondern eine Armbinde trugen, geschenkt.) Der Gipfel der Geschmacklosigkeit war, dass hinter dem jeweiligen Redner großflächige Fotos des einstigen Ghettos die Worte illustrierten. Warum laufen solche Gedenkveranstaltungen meist wie Theateraufführungen einer kleinstädtischen Studentengruppe ab? Man bemüht sich eisern, der ehrenwerten Sache gerecht zu werden und vergreift sich dann doch mit den Mitteln, indem man diese per Holzhammer benutzt.

Tage später klärte mich ein Artikel in der Zeitung auf. Bei der Blume meiner Erregung handelte es sich um eine Narzisse aus Papier. Die Narzisse zeigt in Polen den Frühling an und eine Bastelanleitung für jene Ansteck-Narzisse fand man u.a. auf der Seite des Museums polnischer Juden in Warschau.




                                    09.12.2022                         Verbrecher, die auf einer obskuren Liste ziemlich weit oben stehen, werden immer, hat man sie endlich gefasst, per Hubschrauber nach Karlsruhe gebracht. Von einigen dieser Fluggäste gibt es Fotografien. Man sieht sie vor ihrem Abflug oder beim Ausstieg. Sie balancieren die Treppe hinab, weil ihnen zur Fremd- und Eigensicherheit die Hände gefesselt sind. Und doch gibt es nicht von allen einen solchen Schnappschuss. Wahrscheinlich werden nur die fotografiert, die die gierige Volksseele befriedigen.

Aber das soll an dieser Stelle keinen Überflug, keine Überlegung wert sein.

Was mich umtreibt ist der Hubschrauber, dieser tosende Kasten mit rotierenden Flügeln.
Warum werden die Übeltäter nicht in der Stadt in Obhut genommen, in der man ihnen habhaft wurde? Steht bei der Festnahme das inszenierte Spektakel im Vordergrund und nicht etwa die viel gelobte Wehrhaftigkeit unserer Demokratie? Steht demnach in jeder, wirklich in jeder Stadt mindestens ein solcher (hochgesicherter und dennoch unsichtbarer) Hubschrauber? Und das in der ständigen Hoffnung, dass früher oder später ein bitterböser Mensch aus dem nördlichen Saßnitz in den westlichen Zipfel von Baden-Württemberg transportiert werden muss?

So viel Leerlauf und so viel Planung erstaunt. Vielleicht ist das mit einer Armee zu vergleichen, ein Staat gönnt sich diesen haushaltstechnisch schmerzhaften Posten, obschon man inbrünstig hofft, ihn nie abrufen zu müssen.
Was machen die treuen Diener der Luftstreitkräfte, während sie auf ihren Transport warten? (Die Chance, von einem Erdbeben heimgesucht zu werden, ist für eine Stadt ungemein größer, als dass vom Rathausplatz eine hochsensible Fracht abhebt.) Dürfen sich die Piloten also in ihrer Auszeit einem schnöden Kartenspiel hingeben? Oder langweilen die Väter die kinderlosen Piloten mit Geschichten von ihren Gören? Und ist es nicht denkbar, dass die Flieger, nach dem sie jahrelang geduldig auf ihren Einsatz gewartet haben, völlig aus der Kanzel fallen, wenn doch einmal ihr Bordtelefon surrt? „Was ist das?“ „Das Telefon.“ „Welches Telefon?“ „Scheiße, das ist der Chef. Geh ran.“ „Und was sage ich dem?“ „Was weiß denn ich.“ „Und wenn der sagt, Meier, Sie Tulpe, warum gehen Sie an das Telefon?“ „Aber wenn es klingelt.“

Und vor lauter Aufregung wissen die uniformierten Jungs nicht mehr, was sie zu leisten haben? Das will ich nicht hoffen. Am Ende müsste man die Piloten wegen nachgewiesener Überforderung aus dem luftigen Verkehr nehmen und die verdächtige Person, die ergeben dem Transport in einer der schäbigen Dienststellen ausharrt, mit einer Limousine gen Karlsruhe düsen. Und der Generalbundesstaatsanwalt reibt sich die Augen und fragt: „Sie kommen mit dem Auto und nicht mit dem Hubschrauber? Haben Sie etwa Flugangst? Was sind Sie denn für ein Verbrecher? Und das nächste Mal kommen mit dem Zug?“  



                           08.09.2021             Eine Besonderheit, die den Abzug der US-Streitkräfte aus Afghanistan auszeichnete und im medialen Diskurs auffallend unterging bzw. keinerlei Erwähnung fand, war, dass entgegen der Erwartung, den Rückzug zu begrüßen, die allgemeine Klage darüber vorherrschte, dass dieser überhastet, unkontrolliert und in einer frevelhaften Art, die mit den Bündnispartnern nicht abgesprochen war, erfolgte. So war es nicht die Freude oder der mögliche Beifall, dass sich die US-Streitkräfte (endlich) aus dem fremden, wenn auch für sie strategisch wichtigen Land zurückzogen, in welchem sie unterm Strich trotz der stets wiederholten Beweggründe nichts zu suchen hatten, geschweige denn 20 lange Jahre berechtigt waren, sich dort bekanntermaßen auszubreiten, sondern, dass sie ihre Zelte abbrachen sowie das Wie und in welcher zeitlichen Abfolge sie den nun rundum kritisierten Heimmarsch antraten.

                            Wie die Bilder vom 11. September 2001, die u.a. das einstürzende World-Trade-Center sich ins kollektive Gedächtnis eingruben, waren es fast zwanzig Jahre später die nicht weniger nachhaltigen Fotos von überfüllten Innenräumen der Flugzeugträger, die amerikanische Bürger und afghanische Ortskräfte außer Landes brachten. Zu den Aufnahmen, die den Abzug der US-Streitkräfte dokumentieren, gehören wiederum jene von Nicole Green sowie von Chris Donahue, die seitdem als personifizierte Vertreter einer verlorenen Schlacht stehen.

                            Nicole Gee wurde im US-Bundesstaat Kalifornien geboren und war Sergeant einer Einheit von Marineinfanteristen. Nach ihrem Einsatz in Kuwait wurde Green in Afghanistan stationiert. Am Kabuler Flughafen zählte sie zu den Sicherheitskräften, die die Evakuierung der US-Bürger und der einheimischen Ortskräfte überwachten. Am 20.08.2021 entsteht das Foto, was Gee zeigt, wie sie ein Kleinkind im Arm hält. (Andere Fotografien und Filmaufnahmen zeigen afghanische Väter und Mütter, die, weil sie nicht auf das Gelände des Flughafens gelassen werden, verzweifelt ihre Babys über den Zaun des Terminals heben, damit wenigstens die Kleinkinder in den Genuss der Ausreise gelangen.) Sechs Tage später sprengte sich ein Selbstmordattentäter des sogenannten IS am Flughafen in die Luft. Dabei tötete der Attentäter ca. 200 Menschen, darunter 13 US-Soldaten. Unter den Opfern gehörte auch Nicole Gee. Für die Zeit nach ihrer Heimkehr plante sie, eine Familie zu gründen.

                              Dagegen war der Zwei-Sterne-General Christopher Donahue, Kommandierender General der 82. Luftlandedivision, der letzte US-Soldat, der mit einem Flugzeug vom Kabuler Flughafen ausgeflogen wurde. Das Foto, was ihn zeigt und längst als Sinnbild des gescheiterten Krieges herhalten muss, wird mit Hilfe eines Nachtsichtgerätes aufgenommen. Aus diesem Grund ist es die Farbe Grün, die dem Foto eine ganz spezielle, fast schon surreale Note verleiht. In der farblichen Verfremdung, schließlich ist die Uniform wie das Gesicht des Generals in einem grünstichigen Ton gehalten, wirkt der Soldat, der dem Betrachter mit seiner Körpersprache scheinbar entgegenkommt und somit aus seinem Jetzt heraustritt, wie einer, der einer anderen, ja fernen Welt zugehört. Hebt schon die Uniform den Mann vom gewöhnlichen Bürger ab, ist es die Farbe, die ihn von der Masse derer, die das Foto betrachten, abschirmt. Und umso länger man das Foto in der Hand hält, wird plötzlich der Chor der Entrüsteten hörbar, die, weil sie es von Anfang an besser wussten, in ihrer eilig beschworenen Distanz, ihre ungewollte Nähe beschreiben: „Mit dem haben wir nichts zu tun.“ „Mit dem hatten wir nie was zu tun.“ „Den kennen wir nicht.“ „Das ist keiner von uns.“ „So sehen wir nicht aus.“ „So sieht niemand aus, den wir kennen.“ „Was, bitte, soll der mit uns gemein haben?“ „So viel nun mal steht fest, wir haben ihn nicht dorthin geschickt.“

                                     Bevor die US-Soldaten Afghanistan über den Kabuler Flughafen verließen, waren sie bemüht, viele ihrer Ausrüstungsgegenstände, die sie nicht mitnehmen konnten oder wollten, zu zerstören, was übrigens seit jeher zur Sitte derer gehört, die sich als Geschlagene dem Krieg mit Flucht entledigen. Nichts soll dem Feind in die Hände fallen. Und dennoch gelang es Talibankämpfern zurückgelassenes Gut, was nicht unschädlich gemacht werden konnte, an sich zu nehmen. (Auch die Erniedrigung des Feindes durch die provokante Zurschaustellung dessen einstigen Eigentums gehört zum Einmaleins der Kriegsführung, die sich aller Mittel bedient. Der Sieger zeigt sich mit den Insignien des Verlierers, wie der Serientäter zur Bestätigung seiner geglückten Taten Trophäen sammelt.) Die ansonsten mit viel feinem Tuch um Kopf und Körper aufmarschierenden Vertreter der Taliban schmückten sich ab da nicht ohne sichtbaren Stolz mit dem teuren Equipment ihrer Feinde. So schützten die afghanischen Kämpfer ihre Köpfe mit Helmen, die teilweise mit Nachtsichtgeräten ausgestattet waren. Die Körper der Kämpfer waren in robusten Felduniformen gehüllt, über die schusssichere Westen hingen. Die ledernen Handschuhe hielten statt der sonst üblichen Kalaschnikows, jener Beute aus der Auseinandersetzung mit den sowjetischen Eindringlingen, M4-Sturmgewehre der Firma Colt. Dieser Mummenschanz wirkt deshalb derart bizarr, weil es eben die Taliban war, die die US-Armee im Jahr 2001 dazu verleitete, in Afghanistan einzumarschieren, um dort die Glut des Terrorismus zu löschen. Dass es bei dem militärischen Einsatz, der u.a. unter einem UN-Mandat stand, welches erst im Dezember 2020 erneuert wurde, um die Kontrolle des ewigen Querulanten Iran ging, steht auf einem anderen Blatt.

                          02. Februar 2021   Die Pandemie macht es möglich, dass ich Post von meinem Ministerpräsidenten erhalte. Doch damit nicht genug. Jetzt hat mir sogar die Bundesregierung geschrieben. Zunächst wusste ich gar nicht, womit ich diese Aufmerksamkeit verdient hatte. Ja gut, ich gehöre zur Risikogruppe, weil ich Brillenträger und geschieden bin. Aber sonst?

Aus Dresden erreichten mich im letzten April Zeilen, die den ersten Lockdown erklärten. „In diesem Jahr werden wir alle dieses Fest des Lebens ganz verbringen …“ Der Osterhase stand vor dem Tor und wollte seine Eier loswerden.

Nun informierte mich Berlin darüber, dass mir die Bundesregierung „einmalig 15 Schutzmasken mit hoher Schutzwirkung gegen eine geringe Eigenbeteiligung zur Verfügung“ stellt.

Und als würde ich mich nicht fast schon ein Jahr ständig und überall mit einer Mund-Nase-Maske schmücken, legte der Apotheker der Ware einen Merkzettel bei. Der informierte mich darüber, wie ich mit dem kaffeefilterähnlichen Schutz umgehe. „Was ist beim Aufsetzen der Maske wichtig?“ lautet dann eingangs die Frage. Die Antwort folgt sogleich: „Damit die Maske ihre Schutzwirkung über acht Stunden behält, müssen beim …“

Die Sprache in den Briefen und auf dem Merkballt ist leicht verständlich. Selbst ich, der ohne Abitur durchs Leben stolpert, versteht, was gemeint ist. Es ist eine besondere Zeit. Und besondere Zeiten erfordern eine besondere Sprache. Und trotzdem oder gerade deshalb schwingt in jedem Satz ein Hauch Zuversicht mit. Junge Eltern erklären ihren Kindern so die Welt.

                            18.01.2021    Am Samstag wählte die CDU einen neuen Vorsitzenden. Wegen der Pandemie wurde der Parteitag digital durchgeführt. Die Kandidaten standen allein in einer großen Halle, blickten in die Kamera und warben für sich. Die 1001 Delegierten saßen daheim am Computer und gaben dort auch ihre Stimme ab. Der Sender Phönix übertrug den Parteitag, der streckenweise einer abendlichen Fernseh-Show ähnelte. Bei der Verkündung der ausgezählten Stimmen unterlegte die Regie der Stimme des Generalsekretärs der Partei, P. Ziemiak, melodramatische Musik.

Bemerkenswert bei der unterhaltsamen, streckenweise sogar spannenden Übertragung war, dass Phönix die Bilder vom Parteitag verwandte, die die netten CDU-Techniker überließen. Corona-bedingt waren nicht nur keine CDU-Mitglieder zugegen, es waren auch keine Journalisten in der Halle zugelassen. Dass dies Tun keinen Aufschrei in den Medien verursachte, ist eine Geschichte für sich. Schließlich haben die Grünen bei ihrem letzten Parteitag die Eigenproduktion der Bilder vorgemacht. Im hehren Bemühen, die Gesundheit von Journalisten zu schützen, wird so eine umfassende Kontrolle erlangt. Hat ‚die Politik‘ den ÖFR nun endlich soweit, dass sie ihr eigenes Fernsehen produziert, was ein Sender wie Phönix einkaufen kann?



                          22.01.2019 Kaum hat sich der Aufschrei um den Spiegel-Autor gelegt, der mit seinen gefälschten Reportagen Preise einsammelte, steht seit einigen Tagen ein weiterer Mitarbeiter des Hamburger Magazins im Zentrum der Feuilletons: Takis Würger, dreiundreißig Jahre jung, Redakteur und Romanautor. Ihm war es vergönnt, nachdem sein erstes Buch schon ein Erfolg war, sein zweites im renommierten Hanser-Verlag zu veröffentlichen. Im Mittelpunkt seines Romans steht Stella Goldschlag, die, um ihre Eltern zu retten, Juden an die Nazis auslieferte. (Viele Juden wollten lieber von einem Juden abgeholt werden, als von der Gestapo, rechtfertigte Goldschlag viele Jahre später ihr Handeln in einem Fernsehgespräch.)
Die Verrisse, die es zu dem Buch von Würger hagelt, machen schon wieder Lust, das Buch zu lesen.

Bei dem Aufschrei geht eine Erkenntnis unter, dass nach den Überlebenden der Shoah wie Semprun oder Kertész allmählich jene Autoren antreten, die die Judenverfolgung nur aus den Geschichtsbüchern kennen. Für diese Nichtbetroffenen dient das Kapitel deutscher Geschichte als Material ihrer Stories, die den logischen Anspruch haben, fesselnd und gleichsam unterhaltsam zu sein.

Fast unbemerkt strahlen die dritten Programme zur gleichen Zeit die amerikanische Fernsehserie Holocaust aus. Als die Serie vor vierzig Jahren das erste Mal im deutschen (West-)Fernsehen gezeigt wurde, erlebte das Land ebenfalls einen Aufschrei. Es sei fragwürdig, ob man in einem Fernsehfilm ein solches Thema präsentieren könne, tobten die einen. Die anderen waren dankbar, war es doch ihre erste Begegnung mit der Geschichte der schweigenden Väter und Mütter.


 
                      20.08.2018 Jeden Sonntag strahlt ein freiverfügbarer Fernsehsender ein längeres Gespräch aus. In der Sendung unterhält sich ein Moderator mit einer Persönlichkeit, die der Zuschauer in der Regel durch deren Präsenz aus anderen Sendungen oder durch Meinungen, die sie in anderen Medien vertraten, kennt. Zu den Gesprächspartnern der sonntäglichen Vieraugengespräche zählen Politiker wie Musiker, Wissenschaftler wie Sportler.

In diesen Sommermonaten zeigt der Sender Zusammenschnitte von Gesprächen, die vor vier Jahren oder vier Monaten aufgenommen wurden. So kommt es, dass in einer der halbstündigen Sendung zunächst Senta Berger über den Verlauf ihrer Karriere Auskunft gibt, dann von dem Autor Roger Willemsen gefolgt wird, der nach zehn Minuten, die durch die Wucht seiner Gedanken viel länger erscheint, Platz für den abwägenden und in sich ruhenden Dirigenten Christian Thielemann macht, der im Plaudern über die Stille in der Musik wiederrum von dem Journalisten Peter Scholl-Latour abgelöst wird, den der Journalist zum neunzigsten Geburtstag gratuliert. Die sommerlichen Schnipsel, in der sich die gesprächigen Zeitgenossen mal an einem Stehtisch, dann wieder in einem weitläufigen Park einfinden, gibt allen die Möglichkeit, neben Episoden aus vergangenen Tagen zum Besten zu geben, auch mutig das Zukünftige, all die Pläne und Vorhaben vor der Kamera zu skizzieren. Der Anschein, dass sämtliche Befragten noch leben, also ihren launigen Ideen bald und ungehindert nachgehen werden, resultiert aus dem Weglassen einer winzigen Information: Wann das jeweilige Gespräch aufgenommen wurde, welchem der Zuschauer beim Bügeln oder beim Kochen des Mittagsessens gerade beiwohnt, erfährt dieser nicht. Dies ist allein deshalb von Bedeutung, da es zur Konstante dieser auf Dialog basierten Sendung gehört, dass die sich über das Jahr hinweg ausschließlich lebenden, noch aktiven Menschen widmet. So kann der Ungeschulte, der um die Lebensdaten weniger informierte Konsument, leicht dem Bedürfnis erliegen, in der nächsten Woche nach dem neuesten Buch oder der neuesten Platte jener Persönlichkeiten ausschauhaltend die Geschäfte zu durchstöbern, die ihm in den Sendungen am nachhaltigsten beeindruckten.

Dass der Kanal, der sonntäglich die Sendung präsentiert, den Namen eines mythischen Vogels trägt, den man mit der Wiedergeborene oder der neugeborene Sohn übersetzen kann, ist, wenn auch rein zufällig, in diesem Zusammenhang eine kleine Notiz wert.    


                            04.08.2018 Als die sehenswerte Ausstellung Zeichen als Waffe im Juni 2018 im Deutschen Buch- und Schriftmuseum eröffnet wurde, fand folgende Nachricht den Weg durch viele Medien: Studenten der hiesigen Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) hatten unter Prof. G. K. Bose herausgefunden, dass dem Logo, welches die Rote Armee Fraktion (RAF) ab Mai 1971 benutzte, ein markanter Fehler inne wohnt – ob bewusst (als Beweis von Ironie, deren Besitz man den RAF-Leuten stets absprach) oder unbewusst blieb offen. Die Maschinenpistole, die neben den drei Buchstaben und dem fünfzackigen Stern zu sehen ist, war keine, wie man geläufig behauptete, aus sowjetischer Produktion. Bei der abgebildeten Schusswaffe, mit der die Terroristen wirksam unterstreichen wollten, dass sie (auch) Gewalt und Tod zur Erfüllung ihrer Ziele einsetzen werden, handelte es sich nicht um eine handliche Kalaschnikow sondern um eine MP 5, ein schnödes Produkt kapitalistischer Herkunft der deutschen Firma Heckler und Koch.

Wie es zu diesem und zu anderen Zeichen kam, mit denen sich die Terroristen schmückten, zeigt die Ausstellung, die, trotz eines heißen Sommertages, ziemlich dunkel wirkte. So wünsche ich der Ausstellung, die noch bis Januar 2019 kostenlos zu besichtigen ist, mehr Besucher und mehr Licht.

 

                           09.07.2018 Als Kind besaß ich ein kleines Radio, das nicht größer als eine Hand war. Mit dem Gerät hörte ich unter der Bettdecke Hörspiele. Montagabend verfolgte ich beim Deutschlandfunk das Schlagerderby und mittwochs eine Sendung mit neuer Musik. Mit dem Kofferradio, welches ich zu meiner Jugendweihe erhielt, gesellte sich zum Dlf, der mir für angenehme Stimmen und die Informationen wichtig war, DT64 und Radio Luxemburg. DT64 entlieh seinen Namen dem ‚Deutschlandtreffen der Jugend‘ vom Mai 1964, dem letzten großen Werben um die Deutsche Einheit auf dem Boden der DDR. Der im Juni 1964 gegründete Sender DT64 versuchte mit seinem Programm weiterhin die jungen Menschen zu erreichen. Radio Luxemburg dagegen glänzte mit viel Werbung und den aktuellen Hits der Charts. Die letztgenannten Sender waren tags über wichtig, doch in den Abendstunden oder nachts, wenn ich nicht ein- oder durchschlafen konnte, genügten diese Sender mir nicht mehr. So fand ich, wohl auch durch die freundliche Empfehlung besonders naher Schulfreunde, auf Mittelwelle zu einem Sender, der für jene amerikanischen Soldaten gedacht war, die im damaligen Westdeutschland stationiert waren. Der Soldatensender* oder AFN, der auf meinem Radio passenderweise seinen Platz ganz links, also westlich auf der Skala hatte, spielte pausenlos Musik. Die Kommentare, die gern den Anfang und das Ende eines Titels begleiteten, wurden auf Englisch gesprochen. Obschon ich nichts verstand, was ich hörte, fühlte ich mich von dem Sender angesprochen. Vielleicht fühlte ich mich bei dem Sender deshalb heimisch, weil ich nichts verstand. Es muss in der Zeit meines eigenen Wehrdienstes gewesen sein, als ich den Bezug zu dem Sender verlor - und zeitweise zu RIAS umsteuerte. (Dies zählte zu den urkomischen Eigenheiten von meinem aktiven Dienst an der Grenze zu Westberlin. Wenn wir Radio hörten, und wir hörten verbotenerweise auf dem Wachturm oder beim Ablaufen der Mauer Radio, dann RIAS, den Sender des Klassenfeindes.) Wie einen guten Freund, der mir wichtig war und der mich für eine gewisse Zeit begleitete, ließ ich den Sender der Soldaten zurück, ohne Streit, ja ohne nennenswerten Grund, ich gehörte nun selbst zu der Spezies Soldat. 

Vor kurzem erinnerten die Medien an den Soldatensender, der vor 75 Jahren „nicht nur den Rock’n’Roll nach Deutschland“ brachte. Es bedurfte dieser Meldungen, dass ich mich des Senders besann. Mittlerweile hat der Sender seine Frequenz anderen überlassen und ist ins Internet gezogen. Kaum klickte ich den Sender dort an, war das einstige Gefühl wieder da, obschon das Konzept dem heutigen Dudelfunk ähnelt, der mit krankhaft guter Laune und anbiedernd wie ein Schwarm von Schmeißfliegen einem die Ohren verkleistert. Es war die Erinnerung, die sofort präsent war, denn mich begleitete der Soldatensender durch die eine oder andere zivile Nacht. Um die Mehrzahl meiner Nächte, die noch vor mir lagen, hatte ich keine Bange. Auch die Schlaflosigkeit schultert man in der Jugend besser, weil man weiß, weil man sich in seiner jugendlichen Frechheit sicher wähnt, dass von ein paar wachen Stunden die Welt nicht untergeht wie der Morgen danach nicht weniger frisch sein wird, wie es der gestrige war.

*) Nicht zu verwechseln mit dem Deutschen Soldatensender 935, einem Geheimsender DDR, der von 1960 bis 1972 betrieben wurde.

               26.06.2018  Im Haus des Buches von Leipzig hing bis vor einigen Tagen eine Fotoausstellung American Realities. Die Fotografien des Dänen J. Eskildsen „dokumentieren“, hieß es in der Ankündigung, „den prekären Alltag der Menschen auf der Schattenseite des amerikanischen Traumes, der sich spätestens seit dem Amtsantritt von Donald Trump für viele vollends zum Albtraum verkehrt hat“. Dass Eskildsen bereits 2011 mit seiner Kamera in Amerika unterwegs war und der gleichnamige Bildband im Steidl-Verlag 2015 veröffentlicht wurde, also vor Trump, egal. Im Jahr 1980 erschien in der DDR der Fotoband Bilder aus Amerika. Diese Fotos, die ebenfalls von einem dänischen Fotografen, Jacob Holdt, stammten, zielten bei einem Großteil der damaligen Bürger auf einen ähnlichen Abwehrreflex: „Das soll das Land der Freiheit sein?“, wurde unisono gegrummelt. Um im gleichen Atemzug erleichtert festzustellen: „Gut, dass wir so nicht leben müssen!“

Die Fotografien von Eskildsen entfalten ihre eigentliche Wirkung, führte man sich die kurzen Erklärungen, die auf einige DIN-A4-Seiten bereitlagen, zu Gemüte. Die Erläuterungen gaben den abgebildeten Menschen ihre Geschichte. Die knappen Erklärungen halfen zu verstehen, weshalb z. B. Roland Major vor einer Brücke steht. Eskildsen zeigt – wie einst Holdt – Menschen am Rand der Gesellschaft: Wanderarbeiter und Obdachlose, vom Hurrican ‚Katrina‘ Entwurzelte und von ihrer Versicherung Fallengelassene. In den Tagen der Fußballweltmeisterschaft beweisen die Fotografien eindrücklich, dass Menschen, die im Abseits ihr Glück suchen, nicht allein auf dem gepflegten Rasen zu finden sind.

                 

                 16.05.2018 Der Parteitag der FDP am letzten Wochenende brachte vor allem einen Redner in Position: Christian Lindner. Gerade erst für seine Rhetorik ausgezeichnet, gab der Parteivorsitzende ein Feuerwerk seiner Rednerkunst ab. Interessant fand ich seine Körpersprache, die eine Lebendigkeit vorgab, dabei eher steif und hölzern wirkte. Die Arme nutzte Lindner beim Reden kräftig mit ein, wobei er stets nur einen Arm bemühte, der andere blieb ruhend nahe dem Pult und somit nahe dem Redemanuskript. Luc Bondy äußerte sich 2007 in einem Interview zum Gebrauch der Hände beim Sprechen. Bondy betonte, dass es die ruhende sei, die bei der Darstellung wichtig sei, weniger die Hand, die durch die Luft tänzelt. „Wenn Schauspieler mit beiden Händen spielen, ist das wie bei einer Fernsehstörung: Man sieht gar nichts mehr. … Das Aufregende ist diese ruhig bleibende Hand.“

                  20.04.2018   Seit sich die SPD entschieden hat, erneut mit der CDU eine Regierung zu bilden, gibt es drei Parteien, die das Feld der Opposition beackern. Zahlenmäßig führt die Schar die AfD. Gefolgt von den Grünen und den Linken.

Gestern landete ich beim Zappen auf Phönix. Dort wurde eine Aussprache aus dem Bundestag übertragen. Am unteren Bildrand las ich, dass es sich zum Gesetzentwurf zur IT-Sicherheit der Grünen ging. Davon hatte ich zwar keine Ahnung, konnte aber mitreden. Aufmerksam folgte ich einer Frau, die ihre Rede mit einem leichten Akzent sprach. Da weder der Name der Referentin noch die Partei eingeblendet wurde, für die sie das Wort ergriff, folgerte ich, dass die Frau von den Grünen kam. Schließlich konnte ich allen Gedanken, die die Dame äußerte, zustimmen. Was mich wunderte, war, dass der Beifall, den die Rednerin erhielt, von den Abgeordneten der AfD kam. Aber das wusste ich ja. Das hatte ich gelesen. Die Partei mit dem blauen Pfeil, der viagragestützt Tag und Nacht zur Sonne zeigt, klatscht gern mal bei anderen Parteien. Das machen die Herren und Damen nicht, um das Gesagte des politischen Gegners zu unterstreichen. Bei ihren händigen Bekundungen geht es um die Verwirrung, die sie stiften. Im Plenarsaal. Und beim Redner. Vor allem bei dem. So wird der Beifall zum gefürchteten Störfaktor. Feindeslob gilt eh als die ultimative Giftspritze.

Also überhörte ich den Beifall der AfD, wusste ich doch die Frau mit ihren Argumenten auf meiner Wellenlänge. Und der Akzent? Eine Partei, die gegen Ausländer wettert, wird wohl nicht eine Ausländerin zum Sprachrohr ihres Gedankengutes machen. Obwohl. Hier hätte ich stutzig werden müssen. Lebte die Co-Vorsitzende nicht mit einer Frau zusammen? Und das bei einer Partei, die die Werte der klassischen Familie für sich proklamiert?

Als die Rednerin ihren letzten Satz abgelesen und gesprochen hatte, sich bedankte und mit raschen Schritten zu ihrem Stuhl eilte, stockte mir der Atem. Der Weg führte die Frau mitten durch die Schar der mäßig applaudierenden Abgeordneten ihrer Partei. Und die haben ihre Plätze sinnigerweise auf der rechten Seite des Hohen Hauses. Die Rednerin, der ich so artig gefolgt war, weil ich ihr in den meisten Punkten zustimmen konnte, die Frau, die ich bei den Grünen beheimatet glaubte, war Joana Cotar. Sie stammt aus Rumänien und gehört seit vielen Jahren der AfD an.

Als ich endlich wieder zu Atem gekommen war, ging ich mit mir ins Gericht. Wo, bitte, war mein Urteilsvermögen? Wo meine Menschenkenntnis? Als ich mich genug gegeißelt hatte, suchte ich den Grund meiner Verfehlung an anderer Stelle. Was, wenn die AfD genau dies beabsichtigte, fragte ich mich und spürte, dass die Entlastung sogleich die gewünschte Wirkung zeigte. Neben Verwirrung beim Redner zu stiften, lag der Partei vielleicht auch daran, Verunsicherung beim Zuschauer zu säen. Nach dem Motto: Diesem jämmerlichen Allesfresser, also mir, soll das Wort im Hals stecken bleiben! Dieser erbärmliche Allesglauber, also ich, soll an sich zweifeln! Ich soll an mir zweifeln. Und ich soll an allen Rednern zweifeln. Wie an allen Parteien und in Ewigkeit. Amen. Ich soll keinen Gott neben dem einen haben. Noch besser wäre es: Ich glaube an niemanden mehr. Lieber soll ich an den einen Grundsatz glauben, dass alle Parteien ein einziger Haufen ist. Und dass sich alle Redner ohnehin vorher in der Kantine beim Kaffee mit Schuss besprechen und die Rollen verteilen.

                15.01.2018   Ist es Überheblichkeit oder Verkennung der Tatsachen, wenn der neue ARD-Chef Wilhelm, kaum im Amt, nach einer Gebührenerhöhung ruft? Die öffentlich-rechtlichen Sender stehen in der Kritik: zu staatsnah, zu verstaubt und zu unflexibel. Dabei sind die Streaming-Dienste das eigentliche Problem: Fernsehen, wann und wie es der Konsument will und nicht nach der zeitlich starren Vorgabe der Sender, wird immer beliebter. Und der Inhalt, den die Dienste anbieten, erhöht ihre Zugkraft. Immer namhaftere Schauspieler und Regisseure arbeiten für die Anbieter im Netz, was für die Dienste spricht und gleichzeitig Gift für das ehrwürdig lineare Fernsehen ist. Um das Bild noch etwas zu strapazieren zeigt sich zumindest das öffentl.-rechtliche Fernsehen in unserem Land in einer, vom Gift ausgelösten Schockstarre. Doch den Grund der plötzlichen Lähmungserscheinung bestimmter Glieder erkennt man nicht oder man will ihn nicht erkennen.

Anfangs wurden die Streaming-Dienste noch belächelt, man traute ihnen einfach den Biss nicht zu, dem finanziell gut gepolsterten Monopol in irgendeiner Weise zu schaden. Inzwischen erfreuen sich die Internetanbieter über eine wachsende Zahl von Abonnenten. Und alles deutet darauf hin, dass die massenhafte Zuschauerwanderung lange nicht beendet ist. Der ARD-Vorsitzende aber pocht in seiner euphemistischen Sprechweise auf die ‚Anpassung des Rundfunkbeitrags‘ (im DLF am 11.01.2018). Man könnte das Dilemma der öffentlich-rechtlichen Sender mit dem Verhalten der Volksparteien vergleichen, die von Wahl zu Wahl an Zuspruch verlieren, in ihrem Bemühen aber, die Macht zu sichern, auf ihr Mantra ‚Weiter so!‘ setzen, auch wenn sie versichern, dass es ein ‚Weiter so!‘ nicht geben darf (Lars Klingbeil, SPD-Generalsekretär nach dem ersten Tag der Sondierungsgespräche).  

                     26.11.2017    Berliner Polizisten ist aufgefallen, dass einige Mitglieder der Familienclans, die Neukölln verunsichern, die Sprache der Figuren aus dem deutschen Mehrteiler 4 Blocks adoptieren. Durch die Trivialisierung erlebt das Böse jene Anerkennung, die einem mitternächtlichen Schusswechsel in einer Vorstadtbar versagt bleibt.

    Schon immer wurden gern Themen fiktionalisiert, die die Gesellschaft auf eine perfide Art und Weise umtreiben. Doch Tatbestände wie Banküberfälle, Entführungen oder Morde reichen ohne diffiziles Beiwerk nicht aus, um diese spektakulär zu verfilmen und damit ein Millionenpublikum anzulocken. Die Taten müssen den Schatten des Alltäglichen verlassen, groß und größenwahnsinnig angelegt sein oder/und von organsierten Gruppen durchgeführt werden. Aus derlei Ingredienzien entstand vor Jahren ein ganz eigenes Genre, dass der Mafia-Filme. Diese in zeitlicher Hinsicht alles bisher Gewohnte sprengenden Mehrteiler vom Aufstieg eines pickligen Ladendiebes zum skrupellosen Herrscher eines Kartells, wurden und werden in der Regel mit namhaften Darstellern besetzt. Ihr schillerndes Agieren auf der Leinwand sowie ihre im Filmriesen verwendeten Floskeln wurden, wenn die Streifen ein nahezu perfektes Bild der kriminellen Gemeinschaft zeichnet/e, willig von der Fangemeinde übernommen.

Und so ist anzunehmen, dass Polizeibeamte, die sich der Telefonate führender Köpfe der Unterwelt bemächtigten, auf jene kruden Sätze stießen, die ihnen schon beim Schauen von Der Pate oder Good Fellas unangenehm auffielen. Damals hatten sie dem Film bald den Rücken zugekehrt, weil sie überzeugt waren, dass so nie einer von denen spricht, so konnten sie im Kleinbus sitzend und mit den Kopfhörern ausgerüstet nicht einfach sich aus dem Telefonat zweier Krimineller ausklinken, die bei der Planung einer länderübergreifender Aktion das scheinbar sanfte und gleichsam testosterongesteuerte Kauderwelsch von Michael Corleone oder James Burke übernahmen.                 

                     28.09.2017  Vor einigen Tagen wurden in Essen drei Menschen wegen unterlassener Hilfeleistung zu Geldstrafen verurteilt. Die Beschuldigten hatten im Oktober 2016 in einer Bank einen am Boden liegenden Mann ignoriert, stattdessen gingen sie ihren Geldgeschäften nach. Wenig später verstarb der Mann im Krankenhaus.
Einen Tag nach der Urteilsverkündung ereiferten sich die Medien über die drei Leute, die weggeschaut und nicht geholfen hatten. Natürlich ist deren Handeln nicht zu billigen, ist es doch ein weiterer Baustein einer „wegschauende Gesellschaft“.
Stimmt das? Ist das so?

Sollte nicht vielmehr die weithin sichtbare Armut Anlass sein, die Stimme zu erheben? Sollte nicht die Vielzahl der Menschen zum kollektiven und meinetwegen medialen Aufschrei führen, die täglich ohne eine feste Bleibe auf den Straßen der Bundesrepublik anzutreffen sind? Woher stammt dieses wohlfeile Gehabe, sich über die drei Bankkunden aufzuplustern? Eine sicher mit Recht zu beklagende Verrohung von Menschen hat Ursachen, die in erster Linie anzuprangern sind.

Gerade in einem Geldhaus dem Grundprinzip der Ellenbogengesellschaft derart ungeschminkt zu huldigen, erinnert an Brechts spitzfindige Frage, was ein Einbruch in eine Bank gegen eine Gründung einer Bank sei?

Allein heute passierte ich zwei Menschen, die auf dem Fußweg lagen und das sicher nicht, weil die Herbstsonne dazu einlud. An einer Straßenbahnhaltestelle in der Innenstadt lag ein Mann auf dem Rücken, neben sich zwei Taschen. Seitlich vom Hauptbahnhof lag eine Frau und starrte ins Leere. Ein Papierkorb diente der Frau als Kopfstütze. Ich habe weder Erste Hilfe geleistet, noch habe ich den Notruf gewählt. Vielleicht hätte ich es tun sollen, um mir anzuhören, dass die hilfelose Person ein bekannter Wohnungsloser sei, der jede Hilfe ablehne und dass es sich bei der Frau um eine Alkoholikerin handelt, die nach jeder geglückten Ausnüchterung den nächstbesten Kiosk ansteuert, um sich eine Flasche Korn zu kaufen.

29.08.2017       Georg Büchner war 23 Jahre, als er starb und das Fragment Woyzeck hinterließ. Die titelgebende Figur Johann Christian Woyzeck war 44 Jahre, als er auf dem Leipziger Marktplatz hingerichtet wurde. Drei Jahre zuvor hatte er seine Geliebte mit mehreren Messerstichen getötet und sich der Polizei gestellt.

Genau 193 Jahre nach der Hinrichtung lud die Schaubühne Lindenfels zu einer ‚fiktionalen Live-Übertragung‘ genau an dem Ort ein, wo sich einst 5000 Bürger der Stadt versammelten und gespannt auf den finalen Schwerthieb warteten. An dem frühen Abend des 27. August 2017 waren erneut viele Schaulustige gekommen und sahen interessiert zu dem Stuhl, der etwas verloren auf der Nachbildung eines Schafotts stand. Was folgte war eher ein Hör- als ein Theaterstück mit Passagen aus Büchners Bühnenfragment und einer kommentierenden Stimme, die aus Inneren des Rathauses vom nochmaligen Schuldspruch berichtete. Allen voyeuristischen Erwartungen zum Trotz setzte sich im Verlauf der knappen Dreiviertelstunde* kein Darsteller auf eben jenen Stuhl, damit der Henker dem sogenannten Halsgericht folgeleisten konnte. Als es schließlich dennoch soweit war, kippte der Stuhl einfach nach hinten und verschwand.

Unter dem Publikum waren auch Touristen, die zufällig zu dem Spektakel stießen. Verwundert schauten sie umher und brauchten eine Weile, um halbwegs zu verstehen, dass sie in eine Inszenierung geraten waren. Was die jungen Flüchtlinge dachten, die über den Markt flanierten, um Freunde zu treffen und einen schönen Abend zu verbringen, lässt sich nur vermuten.
Natürlich wurde die Aufführung noch am gleichen Abend eifrig im Netz kommentiert. Dabei befürworteten einige User ausdrücklich die Todesstrafe für die heutige Rechtsprechung. Ein genervter User empfahl den Freunden eines Mordes von Staatswegen, sie mögen ruhig mal Büchners Stück lesen. 

*) Dass die Länge einer Unterrichtsstunde heute mit der Dauer einer Folge einer beliebigen Serie einhergeht mag an anderer Stelle erörtert werden.

12.08.2017              Was für ein Timing! Gestern den Film ‚Tage des Verrats‘ gesehen, heute die ersten Wahlplakate der Parteien in der Innenstadt entdeckt. (Auch hier gilt dem Timing mein uneingeschränkter Beifall. Kaum meldet sich die Bundeskanzlerin aus dem Wanderurlaub zurück, erklären die Parteien den Wahlkampf 2017 für eröffnet.) Den Film fand ich spannend, die Plakate sind auf bewährte Weise anmaßend oder einfallslos. Einzig die von der FDP stechen aus dem Einerlei raus. Ein Plakat brachte mich sogar zum Lachen. Darauf ist der unrasierte Parteivorsitzende der Liberalen mit einem Smartphone zu sehen. Links oben zwei Sätze: Digital first. Bedenken second. Auf so viel Sprachtrash muss man erst mal kommen … Dass die Sätze leicht schräg stehen, liegt sicher darin begründet, da bekanntlich schief ist Englisch - und Englisch modern ist. Oder so ähnlich.

Sollten für die visuellen Zumutungen im öffentlichen Raum die Parteien den Wählern beim Gang zur Urne eine angemessene Entschädigung zahlen, zolle ich der FDP meinen herzlichen Dank: Selten genug, dass eine Partei zur kostenlosen Erheiterung eines wetterbedingt verstimmten Wählers beiträgt. Mit ihren Plakaten von 2017 marschiert die FDP schnurstracks in die eigene Vergangenheit, in jene Zeit, als sie mit ihrem Projekt 18 zur Spaßpartei mutierte.
Bei der scheinbar abgestimmten Platzierung und den einheitlichen Formaten der Plakate kam mir der Gedanke, dass diese von einer Firma hergestellt und über Nacht an die Lichtmasten gebunden wurden. Und dass sich die Plakate sehr ähnlich sehen, nährt eine weitere Befürchtung: die Parteien haben ihre Werbeetats zusammengelegt, um somit kostengünstig und kartellmäßig eine Firma für deren Gestaltung zu beauftragen.


04.06.2017          Worüber würden sich Marsmenschen am meisten wundern, kämen sie denn auf den Gedanken, uns heute einen Besuch abzustatten? Über die Erdenmenschen, die alle wie gebannt auf  kleine Bildschirme starren, die sie in ihrer Hand halten? Über die vielen Fortbewegungsmittel, die von Menschenhand gesteuert werden, als hätte dieser nichts Besseres zu tun? Oder würden sie sich über das Geld wundern, das sie zunächst in 500-Euro-Scheinen, dann in 200-Euro-Scheinen in gut gesicherten Lagerstätten und in einem Schweizer Bergwerkstollen* entdeckten?

Dass mit den Bildschirmen und den Autos ließe sich problemlos erklären. Für den Umstand, dass Banken und Versicherungen auf ziemlich ungewöhnliche Weise massenhaft Geld verstecken, benötigte man schon etwas mehr Zeit. Würde man aber anheben und von Negativzins, von der EZB, von einer säkularen Stagnation und von Tresorkosten reden, käme man nicht weit. Die Marsmenschen, von Natur aus höfliche Geschöpfe, würden eine Weile unseren Ausführungen folgen, uns dann aber einen schönen Tag wünschen und, als hätten sie noch einen wichtigen Termin, eilig zurück in ihr Raumschiff klettern. 
 
*) siehe Hans-Werner Sinn ‚Was uns Marx heute noch zu sagen hat‘ in APuZ 19-20/2017



02.12.2016            Sonntagabend auf dem Neuen Messegelände. Reinhold Messner präsentierte seinen neuen Livevortrag ‚Überleben‘. Als ich den Weg in den Saal einschlug, lief mir Messner über den Weg. Messner ist eine imposante Erscheinung, obschon er klein und schmächtig wirkt. Und doch strahlt er etwas Unerschrockenes aus. Dabei ist es nicht das triviale Gehabe eines Draufgängers, es ist eher jene Kühnheit eines notorischen Grenzgängers, die den Mann kennzeichnet.

Auf der Bühne stand Messner schließlich seitlich in einem sanften Lichtkegel, als ginge es an dem Abend nicht vorrangig um ihn. Allein die ersten Minuten seines Vortrages machten klar, wohin die Reise gehen sollte: eine monströse Werbeaktion der Betriebsmarke Messner, die mit lapidar erzählten Geschichten von den Höhen und Weiten der Welt ungemein unterhaltsam und kenntnisreich rüberkam. Irgendwann meinte Messner augenzwinkernd, dass er sich das Bergsteigen über all die Jahre nur erlauben konnte, weil alle im Saal vernünftige Berufe ausübten. Sinngemäß sagte er: Ihr Acht- oder Zwölfstundentag war für mich die notwendige Absicherung, um meiner Kletterpassion nachzugehen.

Die Bilderflut, die sich der Leinwand bemächtigte, illustrierte ausgiebig das Erzählte. Selbst der mit Bergen und Gletschern nichts weiter am Hut hatte, mussten die Fußsohlen gekrabbelt haben. Und auch der notorischste Stubenhocker musste einen Heißhunger auf Ferne verspürt haben.

An manchen Stellen, wenn der Meister sämtlicher Achttausender seinen Fotos und Filmsequenzen einen orchestralen Musikteppich unterschob, glitt die Show ins peinlich Schwülstige. Vielleicht träumt Messner von einer Verfilmung seines Lebens. Einen solchen Streifen, den ich Messner wahrlich gönne, würde dieser tonale Zuckerguss kinofähig machen.

Über zwei Stunden spricht Messner frei, in den letzten Minuten verbessert er sich sogar, wenn ihm ein Wort missglückt, oder wenn er sich unwesentlich verspricht. Messner hört sich beim Reden zu, aufmerksam verfolgt er, was er erzählt. Das ist bei Menschen, dessen Referat auf die Summe der drei Buchstaben ICH kommt ein feiner Zug, der umso seltener zu beobachten ist. 

Vor mir saßen ein paar junge Leute. In der Pause stellten sie bei einem Bier fest: „Wenn der Mann wüsste, wie der uns beeinflusst hat!“

Die Notiz stammt vom April 2015. Der Text passt, mit kleinen Änderungen und Strichen, auch für die Veranstaltung am 27.11.2016.


 
21.10.2016
        Hin und wieder spricht man vom Werteverfall und meint dabei die Abkehr von Gewohnheiten, die in keinem Gesetzestext verankert sind, an die sich jedoch (fast) alle halten.
Bisher galt der Clown als Spaßmacher. Er war für Gaudi, für die derb lustige Unterhaltung zuständig. Die Umbaupause ermöglichte ihm den Auftritt. Er war der Tollpatsch, der so blöd über die eigenen Füße stolperte, dass der Zuschauer nicht anders konnte, als über sich und seine eigenen Missgeschicke zu lachen. Sein Auftreten, welches gern mit artistischen Einlagen garniert war, braucht das grell bunte Outfit. Riesige Schuhe gehören zu seinen Markenzeichen wie die rote Knollennase in dem grell geschminkten Gesicht. Durch seine Überzeichnung wird er von allen verstanden.

Nun ist der Garant der Aufheiterung und Wolkenverschieber, der Glückshormonverteiler und Ich-lach-mich-tot

Schenkelklopfer ins gegnerische Lager gestürmt. Die betont spaßige Attitüde des intelligenten Einfallpinselns ist zur gruseligen Grimasse geronnen. Zunächst schmückten sich in den USA Menschen mit Clownsmasken,um willkürlich wie mutwillig Passanten zu erschrecken oder zu überfallen. Mit leichter Verzögerung fanden die Killer-Clowns in England ihre Auftritte. Nun sind sie auch bei uns angekommen.

Kinder haben das schon lange gewusst. Im Gegensatz zur allgemein herrschenden Meinung (der Erwachsenen) finden Kinder Gesichter von Clowns nicht per se lustig. Solange der Clown nicht wenigstens einmal der Länge nach hinfällt, entdecken Kinder zwischen Stirn und Kinn eines Spaßmachers keine Stelle, die sie mit Freude oder gar Vergnügen verbinden. Als würden Kinder über ein sicheres Gespür verfügen, dass hinter jeder Maske, hinter jeder Fassade ein Abgrund schlummert. 



01.10.2016
          Nach dem ein Freund von Debra Milke ihren Sohn erschossen hat, wird sie verhaftet und wegen Anstiftung zum Mord zum Tod verurteilt. Über zwanzig Jahre sitzt die Frau in einer Todeszelle nahe der Wüste von Arizona. Während ihrer Haft finden sich in Deutschland einige Menschen, die eine Freilassung der ehemaligen Berlinerin fordern. Ein Geschäftsmann richtet eine Web-Seite ein und lädt dort wichtige Dokumente hoch. Journalisten berichten per Film und Reportage über die Frau. Eine Schauspielerin sammelt Unterschriften und schiebt Petitionen an. Und ein Mann pflegt über viele Jahre eine sehr intensive Brieffreundschaft mit der Gefangenen. Auf ganz unterschiedliche Weise setzen sie sich für einen Menschen ein, der fern ihrer Wirkungsstätte in einem anderen Land, wie in einem anderen Kontinent lebt. Mit den verschiedensten Mitteln kämpften sie für eine Fremde, deren Geschichte sich auf die Verhaftung und Verurteilung verengt. Woher rührte der Anlass der Helfer Zeit und Geld aufzubringen, um für ein Menschenrecht zu plädieren, Gerechtigkeit einzufordern, einen Justizskandal anzuprangern und offenzulegen, oder, um es in eine Kurzformel zu fassen: um eine Frau frei zu bekommen?
An dieser Stelle drängen sich diverse Märchen auf. Heerscharen von Rittern und Prinzen nahmen allerlei Gefahren und Rätsel auf sich, um die schöne Prinzessin aus den Klauen ihres hartherzigen Vaters zu befreien.

Dass der sozial gestimmte Mensch allein deshalb helfend unterwegs ist, weil er seinen Platz in einer mehr oder minder asozialen Welt sucht, scheint so schlüssig wie zu kurz gedacht.

Wen sahen die Unterstützer in Debra Milke? War die Frau für sie die zum Tode verurteilte blondhaarige Frau, der ein Gericht in einem hanebüchenen Verfahren die Ermordung des eigenen Kindes zuschob? Welche Last lag auf den unterstützenden Männern und Frauen? Kämpften sie gegen ein Delikt, dessen sie sich angeblich schuldig gemacht hatten und man sie ungerechterweise bezichtigte? Erhoben sie ihre Stimme für das Freikommen der eigenen geknechteten Seele? Machten sie gegen ihr Weggesperrt-Sein, gegen ihre, aus welchen Gründen auch immer belegte Ausgrenzung mobil? Woher rührte dieser über viele Jahre sich erstreckende Rettungsimpuls für eine Frau, die mehrere Flugstunden von ihnen entfernt in einer Zelle saß?
Hagen Rether würde kühl feststellen: Das nächtliche Abfackeln des kleinen türkischen Gemüseladens an der Ecke nehmen wir grollend zur Kenntnis: „Scheiße, wo bekomme ich jetzt meine Zigaretten her?“ Für die Freilassung einer Frau in Amerika trommeln wir aber lautstark Geld und Aufmerksamkeit zusammen.

Einer der Befürworter von Debra Milke meinte nach deren Freilassung, dass er das Erlebnis nur mit einer Geburt vergleichen könne. Dabei habe er noch nie einer Geburt beigewohnt, so der Mann weiter. Der Moment der Freilassung eines anderen Menschen wird als das emotionale Erlebnis schlechthin wahrgenommen, das der Geburt eines Menschen. Vielleicht ist der Sinn der oben beschriebenen Aktionen im Glauben daran, dass es ein Leben nach der Todeszelle gibt, zu suchen: die Wiedergeburt eines Menschen   
   



20.01.2016          Die drei Personen, denen man einige gescheiterte Überfälle nachsagt, sind die letzten drei RAF-Leute, die man offiziell seit sehr vielen Jahren sucht. Daniela Klette, 57 Jahre, Ernst-Volker Staub, 61 Jahre und Burkhard Garweg, 47 Jahre.

Bei ihrem jüngsten Überfall trugen die drei zu ihrer Tarnung keinerlei Masken. Da schließlich nur alte, sehr alte Fahndungsfotos von ihnen vorliegen, sahen die Täter von einer Vermummung ab. Mal ganz abgesehen davon, dass Vermummungen im öffentlichen Raum untersagt sind. Dafür marschierten die unglücklichen Räuber mit zwei Kalaschnikows und einer Panzerfaust auf. Letzeres Gerät kam sicher der Einschüchterung wegen zum Einsatz. Denn hätte der Schütze sich ihrer bedient, hätte er einen weiträumigen Zugang zum Fahrzeug geschafft. Doch hätte der Schütze die Lichtgeschwindigkeit mindestens außer Kraft setzen müssen, um die erhoffte Beute den Flammen zu entreißen. Dass der verhinderte Schütze plötzlich von Gewissensbissen wie einst Kaljajew geplagt wurde, mag für keine plausible Erklärung dienen. Kaljajew behielt seine Bombe für sich, da neben dem verhassten Zar auch zwei Kinder im Auto saßen. Dagegen besannen sich die anderen zwei RAF-Veteranen ihrer Maschinenpistolen. Jedoch schwächelte deren Schlagkraft. Die Fenster des Geldtransporters entschieden sich gegen einen Bruch. (Dass sich durch das Abfeuern die Türen automatisch verriegeln, hatten die verhinderten Diebe entweder nicht eingeplant oder nicht gewusst. Der erste Grund würde auf eine halbherzige Vorbereitung verweisen. Was ein mögliches Nichtwissen angeht, spricht der Erfahrungszuwachs für die Akteure.)

Mit diesem Bündel an Widrigkeiten rückt der missglückte Coup auffallend nah an die Präsentation im ZDF-Spektakel Aktenzeichen XY-ungelöst. Hier wurde das Geschehen nicht nur nachgestellt, sondern auch in einer sehr trockenen Manier besprochen. Die Dialoge waren hautnah an der Realität, also umwerfend komisch. Im Hintergrund des Studios logierten diverse Herrschaften und nahmen per Telefon die Anrufe der Spender, nein, derer entgegen, die was gesehen oder was gehört haben. Das alles wirkte sperrig und verstaubt, als plädiere man aus hehrer Überzeugung für ein bewährtes, wenn auch antikes Format statt eine derartige Sendung, die im Fernsehzuschauer den Aktivposten der Demokratie wecken will, griffiger und zeitgemäßer umzusetzen.



08.01.2016          Seit zwei, drei Wochen nehme ich an einer Studie für ein neues Medikament teil. Passend dazu brachte die Wochenzeitschrift Die Zeit letzte Woche in ihrem Magazin mit einem Beitrag zur Kostenexplosion bei neuen Krebsmedikamenten auf.

Der Artikel nimmt sich die Zeit, nicht allein die Kosten detailfreudig anzuprangern. Er ruft nach einer sachlichen Diskussion in der Gesellschaft. Eine Bevölkerung, die nachweislich immer älter wird, provoziert einen steigenden Gesundheitsetat. Vor allem um den schweren Erkrankungen zu begegnen bedarf es einen Plan, ob wir uns alles leisten wollen/können, was möglich wäre. Bekommt zum Beispiel jeder, der an Nierenkrebs erkrankt ist, das vielversprechende und gleichzeitig oft das teuerste Präparat? Oder soll zukünftig nach einem Punktekatalog verfahren werden, der einen Ausschluss wie eine Bevorzugung vorsieht? Da der Patient, der Kinder hat, der verheiratet und Nichtraucher ist. Auf der anderen Seite der kinderlose und alleinstehende Patient, der zu allem Unglück eine Schachtel Zigaretten am Tag inhaliert.

Leider gehört das Thema (noch) zu den heißen, die man lieber nicht anfasst. Aber weshalb? Worauf wartet man? Will man den Diskurs, der mindestens ebenso Talk-Show-tauglich wie all die anderen untauglichen Reißer ist, erst dann führen, wenn Krankenkassen klipp und klar eine Obergrenze - der finanziellen Unterstützung Schwerstkranker - ziehen?  




19.12.2015      Und noch eine Beobachtung. Die jungen, die sehr jungen Verkäuferinnen, die an den Vorweihnachtstagen so ungelenk wie vorsichtig die handgefertigten Kerzen, schweren Bildbände wie die gastfreundlichen Tischdecken mit Blumenmuster der ungeduldig grummelnden Kunden über den Scanner balancieren, denen all das derb Schnodderige fremd ist, mit dem ältere und weitaus wendigere Kassiererinnen auf die Launen der in Glühwein gebadeten Männer und Frauen reagieren, besseren sie sich doch mit ihrem leisen wie zurückhaltenden Tänzeln die eigene karge Geldbörse auf, aus der sie die Wir-schenken-uns-dieses-Jahr-nichts-Geschenke für ihre Lieben bezahlen oder Karten für ein begehrtes, weil seltenes Konzert einer nordirischen Mittelalter-Folk-Band erwerben, dessen umtriebiger Dudelsacksolist Bob Kiss, auch bekannt als Peter, der Trommler, seit seinen ersten Erfolgen in einer Schülerband keine Autogramme mehr verteilt, sondern Küsschen, ausnahmslos Küsschen.


18.12.2015      Die Musik in den Supermärkten. Dabei meine ich nicht das lieblose Abspielen ausgemusterter Lieder von gestern, sondern jenen Klangteppich, der sich aus den verschiedenen Geräuschen und Tönen speist und die Stimmung eines Supermarkts maßgeblich prägt. So herrscht im Kaufland eine Lautstärke, die von den umher tollende Kindern und den Paletten transportierenden Hubwagen ausgeht. Feilscht man hier auch nicht um den Preis, so redet man doch lauter als anderswo. Das Ordern der richtigen Wurst für das Wochenende an der dafür eingerichteten Theke schließt ein Telefonat mit der Tante von Übersee nicht aus. Im Gegenteil, beide, die ferne Tante, wie die greifbare, weil nähere Verkäuferin werden mit der gleichen Intensität an Aufmerksamkeit und vieler Worte bedacht. Dass die Übersee-Tante am Ende ein Danke, das reicht für heute! und die tierliebende Wurst-Verkäuferin ein Küsschen, ich liebe dich! zu hören bekommt, könnte einer Verwechslungskomödie stammen, erhöht dennoch den Unterhaltungswert.

Dagegen scheinen die Einkaufswagen in einem REWE oder einem Norma-Geschäft auf Watte zu gleiten. Alles geht hier leiser vor sich. Trubel und Treiben sind Vokabeln aus einer anderen Sprache. Fast andächtig schreiten die Kunden an den Regalen vorbei. In endlosen Zeitschleifen verheddern sich die Kunden beim Studium der wimperngroßen Zutatenliste einer Packung ostsächsischen Eiersalat mit ökologisch geerntetem Schnittlauch. All die hehren Unterhaltungen und veritablen Wortwechsel ergeben ein Brummen und Summen, welches sicher geschäftig aber nie aufdringlich den Einkauf stimmungsvoll untermalt.


25.11.2015   Wenn ein Essay, der 1991 im Spiegel erschien, im Jahr 2011 dem Autor als Rede für jene Stadt dient, welche ihm die Ehrenbürgerwürde überträgt, dann nennt man dies die Nachhaltigkeit eines Textes nutzen. Und wenn der Text Ende 2015 in einer Lokalzeitung veröffentlicht wird, mit dem Hinweis, dass die Aktualität der Überlegung ein ausreichender für die wiederholte Veröffentlichung ist, dann muss der Autor schier über seherische Fähigkeiten verfügt haben. Christoph Hein stellt in seinem Aufsatz zunächst die These auf, dass die Deutschen nicht fremdenfeindlich sind. Das Jahr 1991 war von einer Erschütterung geprägt, die in diesem Jahr nicht minder um sich greift. Viele Ausländer suchten damals in dem gerade vereinigten Deutschland Schutz, während die deutsche Bevölkerung sich über den Zuzug der Fremden in eine neuerliche Spaltung manövrierte. Das dunkeldeutsche Dafür und das Wir-schaffen-das-Dagegen schloss ein nüchternes Ja mit Auflagen aus. Aus allen Richtungen schiebt Ch. Hein Belege für seine Behauptung heran. Dass wir so reserviert den Ausländern gegenüber reagieren liegt, so Hein 1991, daran, weil wir uns vor deren Armut fürchten. Schließlich sei unsere Religion das Geld, jeder Zipfel Ärmlichkeit gleicht so einer puren Gotteslästerung. Es ist der Bazillus Armut vor dem wir unsere ausgestreckte Hand zurückziehen. Vor jeder Ansteckung müssen wir uns schützen, nur gesund und fit gelingt es uns das Kapital mehren.

Heins Gedanke zündet beim ersten Lesen, doch wie bei einem Funke üblich wärmt dieser selten. Immer, wenn komplexe Fragen pointiert beantwortet, auf einen einzigen Nenner gebracht werden, entsteht ein schiefes Bild, eines, das keineswegs falsch, jedoch wenig stimmig ist.

Auffallend ist der Stil, den Hein verwendet, er spricht den ausländischen Bürger frontal an. Seine Worte richtet er an jene, die in unserem Land Schutz oder/und ein besseres Leben suchen, um ihnen zu erklären, weshalb wir so sind, wie wir sind. Es ist keine Ausländerfeindlichkeit, die uns zur Gewalt gegen euch treibt Es ist unser Haß gegen die Armut. (Natürlich schreibt der Autor 1991 noch in der alten Rechtschreibung und sieht sich auch nicht veranlasst seinen Text in die aktuelle zu übertragen.)

http://www.lvz.de/Mitteldeutschland/News/Schriftsteller-Christoph-Hein-zur-Asyldebatte-Wir-haben-Angst-davor-zu-verarmen



28.08.2015      Peter Richter ist ein Dresdner Autor, der für die Süddeutsche Zeitung aus New York berichtet. Richter schreibt auch Bücher und ist hin und wieder Gast im Fernsehen. Sein leidlicher Auftritt bei Günter Jauch ist mir in Erinnerung, da sprach er sich vehement für einen gesunden Rausch aus. Jetzt hat die LVZ dem Autor fast eine ganze Seite Raum gegeben. http://www.lvz.de/Mitteldeutschland/News/Peter-Richter-Der-Ruf-Sachsens-ist-fundamental-im-Arsch

Ob die Ressentiments gegen alles Fremde noch mit der medialen Abschottung zu DDR-Zeiten zusammenhängen, will der LVZ-Redakteur von Richter wissen, schließlich spielt Sachsen und hier Dresden eine mehr als unrühmliche Rolle, wenn es um Flüchtlinge geht. Er glaubt dass dem nicht so ist, meint Richter. „Ich würde sagen, dass das DDR-Denken, oder jedenfalls eine Identifikation mit der DDR … hier eher besonders ausgeprägt war.“ Dresden hatte zwar kein Westfernsehen und lag im Tal der Ahnungslosen, dafür hörte man hier umso intensiver Radio. Schließlich führt Richter eine Studie von 2009 an, die besagt, dass das Westfernsehen das eigentliche Opium für die werktätigen Massen im Osten war und politisch eine sedierende Wirkung besaß. In Greifswald, wo es ebenfalls kein Westfernsehen gab, waren die Bürger gleichstark renitent wie in Dresden, so Richter.
Der Mangel an Beeinflussung beeinflusst eben auch. Und das West-Fernsehen trug zur (vielleicht kalkulierten) Beruhigung der Bürger bei. Kein Verbot wurde so sichtbar in den ostdeutschen Städten unterwandert, wie die Ausrichtung der heimischen Fernsehantenne auf dem Dach. Hätte die DDR-Führung wirklich gewollt, dass kein West-Fernsehen geschaut wird, hätte man Störsender errichtet, Antennen gerodet oder den Empfang stärker verhindert, als durch die obskure Ein-Mann-Show ‚Der Schwarze Kanal‘. Dass aber das Radio so erfolgreich bei den Sachsen und den Fischköppen funkte und sie zum grummelnden Widerspruch reizte, wage ich zu bezweifeln. Auch wenn der Gedanke interessant ist, dass jene, die keine Bilder sondern nur Töne vom Westen erhielten, sich ihre eigenen Bilder, also ihre eigene Vorstellung von einer Welt zimmerten, die sie nicht kennenlernen durften. Die Welt ist eine andere, wenn ich sie mir lediglich mit Tönen und Worten zusammenflicke, als wenn ich meine Phantasie ruhen lassen kann, bebildert mir doch das Fernsehen die Welt, wie ich sie mir vorstelle oder besser noch, wie ich sie mir vorzustellen habe.