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Volkmar Wirth 

 

 

 

 

 



RADIESCHEN VON UNTEN
von Katharina von der Gathen und Anke Kuhl, 2024

Das Leben reizt bekanntlich mit der Besonderheit, dass es (mit uns) fließt, ohne dass wir diese Bewegung als solche wahrnehmen. Vielleicht in Augenblicken des Glücks oder der Trauer, wobei – auch dies ist wenig neu - das Glück erst im Nachhinein bestimmt werden kann, während die Trauer eine der Emotionen ist, die wir bereits in ihrem Keimen bemerken.

Wenn mir also das oben angesprochene Fließen zwischen Frühstück und dem allabendlichen Absacker bewusst wird, greife ich seit Neuem gern zu der Lektüre Radieschen von unten, dem bunten Buch über den Tod für neugierige Kinder.

Schwerlich kann ich mich zwar denen zurechnen, die halbjährlich anhand von Zensuren kühl mitgeteilt bekommen, was sie gut und was sie weniger gut können, aber neugierig bin ich noch immer. Und so bietet mir das Buch Antworten auf Fragen bezüglich des Ablebens von Mensch und Tier, die ich vielleicht ohne Beiträge wie Im Krematorium oder Verwesung nie gestellt hätte.
April 2024

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INTEGRATION

Ein Protokoll des Scheiterns
von Hamed Abdel-Samad, 2018

Abdel-Samad weiß um das heftige Gewitter, einen Kulturschock zu erleben. Der Autor ist in Kairo geboren. (Dieser Umstand ermöglicht es ihm, über seine Landsleute forscher zu urteilen.) In diesem Zusammenhang sticht in seinem Buch die Passage heraus, in der Abdel-Samad seine eigene Geschichte erzählt. Es dauerte bis er, lange schon in Deutschland lebend, wusste, wohin er gehört. Deutschland war vom ersehnten Zufluchtsort zum Feind geworden. Himmelhoch jauchzend – unter dem macht es der Autor nicht. In den anderen Kapiteln führt er seine Gespräche mit mehr oder minder bekannten Eingewanderten an, was nicht selten den Eindruck erweckt, den Spiegel in der Hand zu halten. Welterklärungen durch die Porträtierten. Auch wenn der Untertitel des Buches an den Reißer Deutschland schafft sich ab erinnert, Abdel-Samad dokumentiert subtiler.

Den Vorwurf, mit dem Nennen, was alles nicht klappt, sich einen schlanken Fuß zu machen, entgeht Abdel-Samad mit seinem Marshallplan für Deutschland. Darin appelliert er an alle relevante Gruppen und Institutionen, die mit Integration in Berührung kommen.

Bezogen auf die mir vorliegende erste Auflage von Integration aus dem Jahr 2018 ist es ein Rätsel, wie der Autor in einem Kapitel über Migration damals und heute lediglich Beispiele Westdeutschlands anführen kann. Dass der Ostteil Deutschlands, wenn auch eine spezifisch andere Migrationsgeschichte aufweist, bleibt unerwähnt. Ganz zu schweigen vom Fakt, dass diese andere Geschichte auf das teilweise Scheitern heutiger Integration im Osten basiert. (Leider gehört die Ignoranz mittlerweile zum guten Ton, den sich gern auch ostdeutsche Medien bedienen: Wenn von deutscher Geschichte nach 1945 erzählt wird, erstreckt sich das Themengebiet zwischen der Nordsee und den Bayerischen Alpen.)
Juli 2023


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DIETRICH BONHOEFFER – „Wir hätten schreien müssen.“
Ein Leben. Ein Zeugnis
von Christian Feldmann, 2015

Als Ende 1986 der Film Martin Niemöller – Was würde Jesus dazu sagen? in die ostdeutschen Kinos kam, waren die Häuser gut besucht. Viele der Zuschauer hatten vorher von einem gewissen Niemöller nichts bis kaum was gehört. Und mit Jesus hatten noch weniger am Hut. Und dennoch zog der West-Film. Ich kann mich noch gut an die Gespräche nach dem Kinoabend erinnern: Es war die Fragestellung des Films, die aufhorchen ließ. So dauerte es nicht lange, bis Freunde halb scherzend, halb ernst vor einer Entscheidung ein „Was würde Niemöller dazu sagen?“** in den Raum warfen. Mit Jesus hatten wir nichts am Hut, doch dieser Niemöller war uns irgendwie sympathisch. Wie der alte Mann in seinem Lesesessel lümmelte und lächelnd gegen die Aufrüstung wetterte, gefiel uns. Der Mann war Mitte 80 und ein brillanter Quälgeist – wir waren Mitte zwanzig und „zitternde Sklaven höherer Mächte“ (C. Feldmann, Seite 192).

Feldmanns Verdienst in Martin Bonhoeffer – „Wir hätten schreien müssen“ ist es nicht nur, anhand Bonhoeffers Berge einsehbarer Schriften die wichtigsten auszuwählen, sondern den Zweifel wie die Euphorie des Geistlichen in den Kontext seiner Zeit zu heben. Selbst wenn sich Bonhoeffer anfangs nicht als Rebell im Talar sah, rieb er sich doch bald mit den Direktiven seiner Kirche und den Anforderungen des Staates.

Man muss kein Querdenker (in der beschränkten Version) sein, wenn einem das Beharren auf das eigene Gewissen, wie bei Bonhoeffer, mindestens Respekt abverlangt. Auch lohnt es sich hin und wieder eigene Entschlüsse mit einem frechen Was würde Bonhoeffer dazu sagen? zu hinterfragen. Oder man beherzigt endlich I. Kant und bringt den Mut auf und bedient sich des eigenen Verstandes.

**) Im Zuge der schleichenden Militarisierung, wo der Wehretat widerspruchslos in schwindelerregende Höhen getrieben und über eine mögliche Kindergrundsicherung monatelang diskutiert wird, drängt sich die Frage förmlich auf.

Mai 2023


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DAS ANDERE MÄDCHEN
von Annie Ernaux

Das andere Mädchen
ist die Schwester der Autorin. Wobei Ernaux ihre Schwester nie kennenlernte, die Schwester starb vor Ernaux´s Geburt. Tastend versucht Ernaux sich dieser Fremden anzunähern. Die Autorin macht sich ein Bild und muss sich doch eingestehen, dass eine Fotografie, von der sie dachte, es handelt sich um ihr Porträt, die Schwester abbildet. Der Irrtum reißt eine Wunde. Über Jahre glaubt Ernaux, in eine Art Spiegel zu blicken, doch was sie die ganze Zeit sieht, ist ihre Schwester. Logisch, dass Ernaux Mühe hat, sie ins Herz zu schließen. Die Äußerungen der Eltern und Verwandten, die Ernaux als Kind aufgeschnappt, manifestieren ihre Reserviertheit. Wäre die Schwester nicht gestorben, hätte es Klein-Annie nicht gegeben. Die Schultasche, die sie trägt, war nicht vorausschauend angeschafft. Es war die Tasche der Schwester.

Ernaux findet den nötigen Ton, um das besagte Bild des anderen Mädchens zu zeichnen. Die Sätze sind von einer Nüchternheit und Distanz getragen, die bei aller Kühle erstaunen. Die Liebe zu einer Toten muss anders sein, als die, die eine Lebende meint. So erreicht Ernaux trotz ihres stolzen Abstandsgebots eine Nähe zur Schwester, die jede (Be-)Rührung ausschließt. Die auf achtzig Seiten verteilten Kapitel belegen die Ahnung: Suchen bereitet selten jene Freude, dem das Finden nachgesagt wird. Wohl aber erfreut das Lesen im Suchen und Finden.

In einem Artikel über D. Kehlmann schreibt J. Hayner (Begriffsklärung in der Zeitung Die Welt: Kehlmanns Werke sind weit entfernt von der Mode des Autofiktionalen, dem literarischen Ich-Kult, der Beglaubigung in der eigenen Biografie sucht. In der bewährten Manier, wir sind die Guten, auf der anderen Seite hocken die, die nichts können, ist Ernaux´s Schreiben bestens skizziert. Und wenn man schon von einer Mode des Autofiktionalen sprechen muss, dann ist Ernaux eine Modezarin mit einer preisgekrönten Kollektion.
November 2022


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DER BLICK AUS DEM FENSTER

Erzählungen
von Hartmut Lange, 2015

Wer sich der Novelle verpflichtet fühlt, der bedient eine ältere Erzählform. Eine, die zahlreiche Meister hervorgebracht hat. Eine Art des Weitergebens, die in der heutigen Welt behäbig wirken mag.

Hartmut Lange zählt wohl zu dem bekanntesten Autor deutschsprachiger Novellen der Neuzeit. Eine Vielzahl der stilistisch anspruchsvollen Zeugnisse hat der in Berlin lebende Lange veröffentlicht. So verwundert es wenig, dass seine Erzählungen eigenständige Fingerübungen späterer Novellen sind. Ohne jene raumgreifende Ausformulierung, ohne jenen zwingenden Spannungsbogen, ohne die typischen Dialoge. Dabei virtuos, aber nicht umständlich, filigran, dabei nie kleinlich, kunstvoll ohne gekünstelt zu sein. Wenn Lange schon in seinen Novellen die Gabe der Reduktion beherrscht, in Der Blick aus dem Fenster zelebriert er das Weglassen.

Die acht Erzählungen kommen ihren Protagonisten so nah, wie es Milchscheiben ermöglichen. Die Personen werden nicht beschrieben. Ob sie eine große Nase haben oder ihr Haare kurz tragen, bleibt unerwähnt. Der Leser erahnt mehr, als dass er vorgelegt bekommt. Dagegen durchstreift das Personal beständig Straßen, die, für Freunde des Stadtplans, bis in die kleinste Gasse namentlich benannt werden. Und die Personen, die da gehen, denken laufend. Wiederholt heißt es: Er dachte.

In einer der Geschichten wagt sich Lange an eine historische Annäherung (während die anderen Erzählungen keinen Zweifel an der Fiktion lassen). Zunächst redet der Autor verklausuliert vom Bösen. Doch dann hebt er den Vorhang und gewährt einen Blick auf die Trauung von Hitler und Eva Braun. Das macht neugierig – und stößt gleichzeitig ab. Es ist, als hätte man im Wartezimmer eines dieser Klatschmagazine gegriffen. Gebannt und angewidert liest man von einer Ehe, bei der das Ja-Wort kaum ausgesprochen, schon beendet war. Warum man die Zeilen dennoch mit einer seltsamen (An-)Spannung verfolgt? Weil es von der nahenden Visite ablenkt.

(In seiner Novelle Die Waldsteinsonate im gleichnamigen Band von 1985 geht Lange auf die Minuten vor dem Tod der Kinder der Familie Goebbels ein. Allein durch die Brechung, der nahen Katastrophe wird ein gewisser Franz Liszt herbeizitiert, hebt das Ganze aus dem bemüht Realistischen.)
November 2022

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NOVECENTO

Die Legende vom Ozeanpianisten
von Alessandro Baricco, 1994, dt. 1999

Mario Salcedo ist 73 Jahre und lebt, wenn man einer großen Illustrierten glauben darf, seit 25 Jahren auf Kreuzfahrtschiffen.

Der italienische Autor A. Baricco beschreibt einen ähnlichen Fall von Sesshaftigkeit. Auf dem Luxusliner Virginian verdient sich ein Pianist seinen Unterhalt, der noch nie seine Füße an Land gesetzt hat. 1900 wird er von Besatzungsmitgliedern als Findelkind in der ersten Klasse gefunden und aufgenommen. Und wie dieser Novecento schier aus dem Nichts auftaucht, überrascht er seine Lieben eines Tages damit, dass er so gut Klavier spielt, als hätte er das jahrelange Üben übersprungen. Und natürlich hatte man ihn weder einmal proben gesehen oder gar gehört.

Leichtfüßig, wie mit Wasserfarben auf lichtem Papier gemalt, lässt Baricco die Welt um den geheimnisvollen Pianisten zwischen Novelle und Theaterstück entstehen. Durch die Zeilen und Bilder ist das sanfte Aufschlagen der achtundachtzig Hämmer zu hören, die nach und nach schwebende Melodien entstehen lassen.
Oktober 2022

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ABGEHAUEN
von Manfred Krug, 2003

Solange man nicht selbst im Mittelpunkt der Be- und manchmal Verurteilung des schreibenden Tagebuchverfassers steht, schaut man ihm begierig und bisweilen belustigt über die Schulter. Nichts stillt unsere Neugier wie der Tratsch über andere Leute, die wir, dem Namen nach, kennen.

So las auch ich die Szenen eines Weggehens. Gleichsam war Abgehauen für mich eine Art Lehrstunde über das Phänomen Wolf Biermann. Denn zugegeben, bislang stand ich etwas ratlos vor dem einstigen Tamtam, den man dem Barden 1976/77 schenkte. Wie vermochte es ein Mann, der Lieder zur Gitarre sang, dem jungen Pflänzchen DDR alle lebensnotwendigen Nährstoffe zu entziehen, das sich vor seiner Zeit zu welken entschied?

Manfred Krug, der im Zuge der Ausweisung des Liedermachers Biermann begann, Tagebuch zu führen, schreibt wie er in seinen besten Filmen sprach: frech und mit lockerer Zunge und doch liebenswert, zutiefst von sich und seinem Können überzeugt und doch fähig genug, Anteil an den Kollegen und Freunden seiner Umgebung zu haben. Die Schieflage einer Gesellschaft beleuchtet Krug mit seinen ganz persönlichen Eindrücken von Stimmungen und Einschätzungen von Menschen der damaligen Zeit. (‚Anlesetipp‘ Krugs Vorladung bei Werner Lamberz, einem der schillerndsten Kronprinzen Honeckers.)
Februar 2022

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SARAH JANE
Roman von James Sallis, 2019, dt. 2021

Sallis‘ Romane kommen fast ausschließlich als Thriller daher. Und sie sind stets auch Bündelungen von philosophischen Minidiskursen zur immer währenden Frage, was das Leben so oft in Schieflage bringt. Lässt man sich einmal auf Sallis‘ hartnäckigen Überlegungen ein, erfährt man viel vom heutigen Amerika und erhält noch mehr Weisheiten, die trotz ihrer Schlichtheit selbst nach einem wiederholten Lesen Bestand haben. Kostprobe gefällig? Ich schüttelte den Kopf. Die meisten Dinge, die Menschen tun, bleiben ein Rätsel. Vielleicht, um es nicht zu kompliziert zu machen. Einen äußeren Schein zu wahren. Was du siehst, ist alles, was da ist. Oder: Was man in anderen Menschen sieht und spürt, ist letztendlich das, was man in sich selbst finden kann.

Im vorliegenden Buch erzählt Sallis die wechselvolle Geschichte von Sarah Jane Pullman, die, als sie beginnt in ihrem Cop-Job endlich Fuß zu fassen, von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Wie immer geizt der Autor wohltuend mit allen Schnörkeln und Ausschmückungen. Und weil er – wie in seinen anderen Büchern – einer gängigen und wortreichen Unterfütterung misstraut, hat Sallis jeden Ballast, jeden Firlefanz aus seinem Lesestoff entfernt. Das ergibt einen kantigen und rauen Text, der dem wenig geradlinigen Lebensweg von Sarah J. voll entspricht.
November 2021

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MOTÖRHEAD oder Warum ich James Last dankbar sein sollte

von Charly Hübner, 2021

Dem Verlag Kiepenheuer und Witsch ist eine Reihe kleiner, aber feiner Bücher zu verdanken, die sich aktuellen wie einstigen Überfliegern der nationalen sowie internationalen Musikszene annehmen. Dabei sind es Autoren oder andere Musiker, die den Stift zücken, um ihren Weg zu ihrer Band oder ihrem Sänger zu schildern. So nähert sich Frank Goosen den Beatles und Wolfgang Niedecken keinem geringeren als Bob Dylan.

Der Schauspieler Charly Hübner, der gern Typen darstellt, unter deren Oberfläche es mächtig gärt und fiebert, bekennt sich zur lautesten Band der Welt. Der Mime aus Mecklenburg versucht erst gar nicht, den galoppierenden Speed und das scheinbar Ungeschliffene, was die Lieder der Berserker um ihren Meister Kilmister auszeichnen, ein- oder gar zu überholen. Schon das Vorspiel auf dem Bucheinband, Charly Hübner über Motörhead oder Warum ich James Last dankbar sein sollte, lässt den Sound der folgenden gut 160 Seiten erahnen.

Ungemein kurzweilig und witzig schildert Hübner, wie er als Heranwachsender auf der verzweifelten Suche nach seiner Musik ist. Dass es die Musik der Eltern, siehe J. Last, nicht sein kann, wird dem kleinen Charly rasch klar. Doch auch die vielen anderen Angebote berühren ihn nicht wirklich. Durch Zufall gerät er an ein paar ältere Schulkameraden, die ihm schließlich die Tür zur Donnerwelt von Ace of Spaces und Overkill aufstoßen.   

Wer nach Hübners kitschfreier Verbeugung keine Scheibe von Motörhead auf den Plattenteller wirft, hat entweder was mit den Ohren oder ist einfach nur ein Banause.
November 2021


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HILLBILLY-ELEGIE

Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise
von J. D. Vance, 2016, dt. 2017

Indem Vance zunächst ausführlich schildert, woher er stammt, umreißt er gleichsam nebenbei ein unsentimentales Gesellschaftsporträt der abgehängten Amerikaner. Dabei geht es immer wieder um Rohheit als den unwidersprochenen Grundton des gemeinsamen Miteinanders. Die auf Krawall ausgerichtete Einstellung basiert wiederrum auf den zuverlässigen Rückgriff allerlei Handfeuerwaffen und der permanenten Gefahr, das Wenige, das einen heil durch den Tag bringt, im Handumdrehen zu verlieren. Was Daniel Woodrell in seinen Romanen seit Jahren derart lebensnah beschreibt, dass man den Schweiß des Flüchtigen unter den eigenen Achseln spürt, liefert Vance quasi aus erster Hand anhand seines Lebens: Die Mutter kämpft Jahr für Jahr mit ihrer Sucht. Und auch die zahlreichen Liebschaften der Mutter bedienen lediglich eine traurige Kontinuität und enden regelmäßig in handgreiflichen Tumulten. So bieten die Großeltern dem kleinen Vance den erforderlichen Halt, wobei es auch im Haus von Mamaw und Papaw recht ruppig und derb zugeht.

Ohne dass Vance den ehemaligen Präsidenten Trump beim Namen nennt, schließlich tritt dieser sein Amt erst im Januar 2017 an, leuchtet dem (deutschen) Leser der Hillbilly-Elegie ein, woher der Erfolg eines Mannes rührt(e), der als Millionär keine Skrupel kannte, dem Kleinen Mann das Wort zu reden – und bei eben jenem Gehör zu finden. Längst hat sich die Enttäuschung über das eigene Versagen bzw. über das eigene Steckenbleiben in einen kräftezehrenden Hass gegen den Staat, gegen das Establishment verlagert. So lässt sich der morgendliche Blick in den Spiegel besser ertragen. Es sind die anderen, die einen so aussehen lassen, wie man aussieht.

Den zweiten Teil der Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise zeichnet Vance seinen Weg als Jurastudent an einer Elite-Uni und als einen, der selbst am meisten darüber staunt, diesen Weg eingeschlagen zu haben, standen doch die Sterne, siehe oben, für ihn völlig anders.

Wie es der Autor schafft, bei alldem stets einen Bezug auf sein Land herzustellen, das all dies ermöglicht – im negativen wie im positiven Sinne (ohne an die Eigenverantwortung des Einzelnen zu mahnen), erinnert an die eindringliche Rückkehr nach Reims von Didier Eribon.
September 2021


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MENSCHEN IM AUGUST
Roman von Sergej Lebedew, 2015

Die russische Serie ‚Djatlow-Pass – Tod im Schnee‘, die zurzeit auf TNT-Serie läuft, nimmt den Zuschauer mit auf die Suche nach ungedeckten Schecks der Vergangenheit. Nicht viel anders verhält es sich mit dem Ich-Erzähler in Lebedews Roman. Zunächst spürt er seinem Großvater nach und stochert dabei im Ungefähren und einem Nebel lauter Mutmaßungen. Bei seiner Arbeit wird ihm bewusst, dass er nicht der einzige ist, der den Toten keine Ruhe gönnt. Er wird zum „Pfadfinder fremder Leute“.

Die Handlung von Menschen im August setzt bei Jelzins* Machtergreifung ein. Viele Würfel sind längst gefallen, nur wahrhaben wollen es in dem Riesenreich nicht alle. Währenddessen scharrt bereits ein ehemaliger KGB-Offizier ganz unverhohlen mit den Hufen, um alsbald in den Kreml einzuziehen. Treffend schreibt Lebedew über diese Zeit: „Nicht das Kommunistische, in dem wir die Hauptgefahr sahen, sondern das sowjetische sentimentale Erbe würde … in …weiterleben, in den nach-sowjetischen Menschen. (Kursiv im Original.) … Die Bedrohung ging nicht von ihnen aus, sondern von der Kombination aus Stacheldraht und Brotduft.“

An anderer Stelle schreibt der Autor: „Ich glaubte diesen Gerüchten nicht, glaubte aber an die Verlässlichkeit der Empfindungen, die sie hervorbrachten.“ Und indem der Ich-Erzähler über seine Freundin nachdenkt, bekennt er: „In ihren Augen war ich besser als in Wirklichkeit – und ich konnte mich von dem, den sie in mir sah, nicht mehr loslösen …“

Keine Frage, der 1981 in der Sowjetunion geborene und mittlerweile in Berlin lebende Sergej Lebedew, ist eine Entdeckung. Kaum einer bringt es derart bündig auf den Punkt: Die meisten Wege, die wir heute wie selbstverständlich gehen, wurden im Gestern angelegt.

*) Auf die seltsame Kontinuität der Namensendungen der sowjetisch-russischen Führer, Lenin, Stalin, Jelzin und Putin, macht Lebedew in einem Nebensatz aufmerksam.
August 2021

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UNBEFUGTES BETRETEN
von Julian Barnes, 2011, dt. 2014

In Unbefugtes Betreten schreibt Barnes mit einer Eleganz, die Langweile nicht scheut. Und in der seismografischen Schilderung aller Scharmützel, die die Druckkammern ausfüllen, in denen sich Menschen tastend und suchend bewegen, ist Barnes erklärter Meister. Unvoreingenommen und unerschrocken steigt der Autor in die Niederungen der gefühlten und tatsächlichen Beziehungen, um dort den vergoldeten Staub wie den Müll zu bergen, der im Alltag gern übersehen wird. Mit Unbefugtes Betreten markiert Barnes nicht toxisches oder vermintes Gelände, vielmehr sind es die bestens bekannten Spielwiesen vom zwischenmenschlichen Finden und Verlieren. In der letzten Geschichte resümiert der Icherzähler: „Vielleicht ist das die Definition einer glücklichen Ehe: Beide Seiten sagen die Wahrheit, auch wenn diese Darstellungen unvereinbar sind.“ Und: „Mum stirbt, aber Dad verliert sie. Ich habe das immer mit einem ‚aber‘ in der Mitte gesagt, nie mit einem ‚und‘.“
Juli 2021

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PREISGELD
Thriller von Harlan Coben, 1997, dt. 2017
 

Myron Bolitar, der umtriebige Sportagent, der nebenher Leute aus seinem nahen Umfeld sucht, fahndet diesmal nach dem Sohn zweier Golfprofis.

Dass Bolitars Suche in die Zeit eines wichtigen Turniers fällt und dass er selbst vom Golfsport wenig bis gar keine Ahnung hat, erhöht den Schwierigkeitsgrad.

Wer den einen oder anderen Bolitar-Krimi von Harlan Coben gelesen hat, weiß, dass der Sportmanager nach einer Reihe bedrohlicher Fehlschläge und Irrungen stets am Ende sein hehres Ziel erreicht. Wobei, wenn alles gut läuft, auch noch ein neuer Klient darum bittet, dass ihn Bolitar unter seine Agenten-Fittiche zu nehmen.

Als probate ‚Anspieltipps‘ mögen in Preisgeld seine Begegnung mit den Irgendwie-Jugendlichen in einem Einkaufzentrum und der launige Plausch mit dem Chef eines Stundenhotels dienen: Die Szenen sind wahre Feuerwerke urkomischer Dialoge, gnadenlos übertrieben und deshalb so herrlich dem wahren Leben abgeschrieben.
Juni 2021

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BLACK BOX
Thriller von Michael Connelly, 2012, dt. 2014

Diesmal bearbeitet Detective Harry Bosch einen alten, einen ungelösten Fall. Und gleichzeitig wird er von seinem Vorgesetzten gemoppt.
Ein typischer Bosch eben. Unaufgeregt und souverän agiert er als wahrer Anwalt der Opfer.

In Black Box wird der Leser nicht unbedingt Zeuge einer aktionsbetonten Handlung oder einem Sarkasmus, der über Leichen geht. Vielmehr schaut der Leser Bosch, diesem sympathischen Eigenbrötler, über die Schulter und erlebt die Mühsal seiner täglichen Arbeit. Stundenlang legt der Mann Puzzleteil an Puzzleteil, sichtet Fotografien, vergleicht Telefonnummern und tippt Namen in verschiedene Suchmasken ein. Um irgendwann, wenn er gar nicht mehr damit rechnet, ein mehr oder weniger aussagekräftiges Bild zu erhalten.

Die Serienverfilmung der Bosch-Bücher bewies eindrücklich, dass sich aus scheinbar langweiligen Verrichtungen im anonymen Großraumbüro früher oder später ein Täterprofil entwickeln kann – es sei denn, man bringt genügend Ausdauer und ‚Sitzefleisch‘ mit.
Juni 2021

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SECHS TAGE IM HERBST
Roman von Bernd Ohm, 2021 

Der Titel Sechs Tage im Herbst führt nur bedingt in die Irre. Nicht jene Tage im Herbst 1977 werden hier verhandelt. Henning Kollwey, Familienmensch und IT-Experte, wird an einem geselligen Abend von seiner unrühmlichen Vergangenheit eingeholt. Einst gehörte Kollwey zu den Helfern, die für den festen Stamm der 2. oder 3. RAF-Generation bis kurz vor der Wende diverse Wege erledigten. Doch nun wird auf ihn – an einem Tag im Herbst – geschossen. Indem Kollwey flieht bzw. sich in Sicherheit bringt, macht er sich auf die Suche nach denen, denen er mit seinem Leben im Weg steht.

Nicht jeder Schritt, den Kollwey bei seiner Flucht unternimmt, ist nachvollziehbar. Und die Sprache, derer sich Ohm bedient, kommt an manchen Stellen arg  gewöhnungsbedürftig daher. (Mehrfach linst Kollwey, dann friert er nicht nur, er bibbert.) Dennoch weiß der Autor spannend zu erzählen, selbst die politischen Ansichten, die seine Protagonisten einander austauschen, bremsen die rasante Tour nicht ab. Gegen die allseits beliebte RAF-Romantik wird kräftig und fundiert ausgeteilt – ohne dabei den Unterhaltungswert zu vernachlässigen. Und der Diskurs zwischen dem desillusionierten Rebellen von einst und den jungen Hausbesetzern von heute zur Problematik im Nahen Osten trifft in ihrer Darlegung sowie mit dem Erscheinungsdatum des Romans.
Mai 2021

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EISENKINDER
Die stille Wut der Wendegeneration
von Sabine Rennefanz, 2012, 2014
 

Die 1974 geborene Journalistin Rennefanz ist in Eisenhüttenstadt aufgewachsen, war also 16 Jahre, als die Mauer fiel. Jahre später, die Autorin hat in ganz anderen Regionen gelebt und gearbeitet, kehrt sie in ihre Heimat zurück. Um nicht von den Erinnerungen erdrückt zu werden, nimmt sie zur seelischen Stärkung zwei Freunde mit. Und doch findet sich Rennefanz sogleich zu einer Stadtbesichtigung ein, die rein zufällig ein ehemaliger Lehrer von ihr durchführt.

Dies dient als ‚Aufhänger‘ der locker notierten Rückschau. Dabei versucht die Autorin sich und dem Leser die Frage zu beantworten, weshalb nicht wenige ihrer Generation Schwierigkeiten mit der offenen Gesellschaftsordnung haben. Als einen Grund benennt Rennefanz das Irrlichten der Erwachsenen, die sich entweder überaus rasch und faltenfrei mit den neuen Gegebenheiten arrangierten und jene, die sich von einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur nächsten hangelten. 

Eine Vielzahl der Kapitel von Eisenkinder geht der spirituellen Selbstfindung der Autorin nach. Dagegen reißt das Buch den Zusammenhang mit anderen Wütenden, dem Terrortrio Bönhardt, Mundlos und Tschäpe, leider nur an. Dass der Klappentext mit der Klammer wirbt, wird somit zu einem Versprechen, was nur bedingt eingehalten wird.
April 2021

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JAKOB DER LÜGNER
Roman von Jurek Becker, 1969, 1976

Durch Zufall wird Jakob Heym Zeuge einer Radiomeldung. Heym war abends im Getto einer namenlosen Stadt unterwegs, als ihn ein Posten aufforderte, sich im Revier zu melden.

Verhilft ihm die Nachricht zu einem Fünkchen Hoffnung, bemerkt Heym rasch, wie sich seine Nachbarn und Arbeitskollegen an der Information über das Vorrücken der Russen stärken. Und weil Heym die Nachricht über den vermeintlichen Frontverlauf mit der Bemerkung peppt, dass er verbotenerweise ein Radio besitzt, wird er ständig nach neuen Informationen befragt – und zu neuerlichen Lügen gezwungen.

In der Tradition eines Scholem Alejchem fabuliert Becker unbeschwert und spielerisch, ohne dabei das Grauen im abgesonderten Wohnviertel zu bagatellisieren. (In seiner Erzählung Die Mauer greift Becker später das Getto als Höhepunkt staatlicher Kasernierung nochmals auf. Dann aus der Sicht eines Kindes, was Beckers eigene Geschichte entsprach.) 

Über einen der Aufseher, die mit dem Schlagen und Schießen nicht lange wackeln, denkt Jakob der Lügner: „…ein Glück, dass er erst hinterher sein weiches Herz entdeckt und nicht von Anfang an ein guter Mensch gewesen ist, sonst wäre … wenig später … seine Güte auf eine zu harte Probe gestellt worden.“

Die Entstehungsgeschichte von Jakob der Lügner ist eine Story für sich. Zunächst als Drehbuch konzipiert, doch der Regisseur fällt in Ungnade. Also wird aus dem Film vorerst nichts. Und der junge Autor macht sich an seinen ersten Roman.

Beckers leise Ironie und seine verschiedenen Blickwinkel, aus denen er erzählt, ergeben für mich die Anlässe, immer wieder zu diesem Buch zu greifen. Im Abstand von mehreren Jahren erfahre ich Jakob der Lügner stets neu und frage mich: Wie macht der Becker das nur, dass Kowalski oder Lina, aber auch Jakob Heym so (be-)greifbar vor einem stehen? Wie gelingt es dem Autor, die dunkle Zeit im Getto mit einer Menschlichkeit zu konterkarieren, die rührt ohne süßlich zu sein?
März 2021

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NULLUHRZUG
Roman von Juri Buida
1997, dt. 2020
 

Eine Handvoll ‚Volksfeinde‘ hat an der Station 9 die Aufgabe, den Nulluhrzug passieren zu lassen und zu melden. Bis man auf die pflichtbewusste Meldung von Iwan Ardabjew erwidert, dass es den Zug gar nicht gibt.

Auf die Frage seiner Geliebten: „ … wozu das alles?“ antwortet Iwan: „Ich weiß es nicht. … Vielleicht ist dort irgendwas. Weiß der Teufel! Aber es kann ebenso gut sein, dass da nichts ist, und trotzdem ist die Linie da – hier, sie existiert, der Nuller fährt, wir leben, und das alles hat einen Sinn, aber welchen, das wissen wir einfach nicht. Genau wie im Leben. Kann das nicht sein?“

Worauf die Freundin feststellt: „Du redest ja von Gott.“ Und Iwan lapidar: „Von welchem Gott?“

Man hatte es immer schon geahnt, Buida erbringt den Beweis: Auch fern der Zivilisation, in einem der vielen Gulags, wartet man auf Godot.

An anderer Stelle, die Auflösung der Sowjetunion erfasst selbst den entlegenen Zipfel, begründet die Geliebte ihr Weggehen: „… Ich habe Angst – vor allem: Vor der Linie, vor dem Nuller, vor diesen rohen Menschen und den Wachhund-Bestien, Angst vor den Toten, und am meisten vor mir selbst …“

J. Buida fängt in seinem Roman eine Welt ein, die so absurd wie sie real ist. Inhalt der Tage ist einzig der Nulluhrzug, von dem keiner der Streckenwärter weiß, was dieser geladen hat. Transportiert er überhaupt etwas?
Das Nachwort von Julia Franck liefert, neben einer Lesehilfe, der man nicht folgen muss, ein paar nützliche Punkte, welche die Romanhintergründe betreffen.
Februar 2021

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DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER
Novelle von Joseph Roth, 1939

Ich will nicht lang drum herum reden. Sollte es mich jemals auf eine Insel verschlagen, in meinem Koffer müsste mindestens ein Buch von Roth stecken. Hiob oder eben Die Legende vom heiligen Trinker.


Der Ton, den Roth in seinen Romanen, Erzählungen und Novellen anschlägt, erinnert stellenweise an den der Heiligen Schrift. Wie Roth seinen heiligen Trinker Andreas durch das nächtliche Paris und damit durch die karge Handlung schickt, so bewegten sich lange vor unserer Zeit die Propheten durch das Gefilde im Alten Testament.

Roth bleibt stets nah bei den Menschen. Deren fragwürdigen Gewohnheiten und gepflegten Unzulänglichkeiten dienen ihm als Grundstein, aus dem er seine federnden, gleichsam schwebenden Sätze meißelt. Wie ein Vater ist Roth seinen Figuren/Kindern zugetan. Er begleitet sie und steht ihnen bei – in guten wie in schlechten Zeiten. Er wertet nicht und hat doch eine Meinung. So beschreibt er eine Liaison, in die Andreas schliddert: „Und sie wußten nicht mehr, was miteinander anzufangen, nachdem sie leichtfertigerweise das wesentliche Erlebnis vergeudet hatten, das Mann und Frau gegeben ist.“

Erschienen ist die Novelle in Roths Sterbejahr. Gemessen an der kurzen Lebensspanne, die dem Autor gegönnt war, was wäre noch von ihm zu erwarten gewesen, hätte man ihn in dem Pariser Hospital angemessener versorgt? (David Bronsen geht in Joseph Roth. Eine Biographie von 1974 ausführlich auf die himmelschreiende Nichtbehandlung ein.)
Januar 2021

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ICH GEHE JETZT
Roman von Jean Echenoz, 1999, dt. 2000

Der Kunsthändler Ferrer verlässt seine Frau und begibt sich in die Arktis. So banal die Kurzfassung von Ich gehe jetzt auch klingt, so spannend baut Echenoz seine Kapitel. Wer sich auf diese einlässt wird mit einem hinreißend komischen, stets tänzelnd schwebenden Erzählton belohnt. Und irgendwann begreift der Leser sowie die Leserin, auf welche Reise der Autor seinen Helden wirklich schickt. Mag im Allgemeinen der Weg das Ziel sein, für Ferrer ist das Fortlaufen wie das Einfangen das Ziel.

Januar 2021

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DIE UNTERGEGANGENEN UND DIE GERETTETEN

von Primo Levi, 1986, dt. 2020

In acht Aufsätzen beleuchtet Levi wie die tätowierte Haut oder die ‚sklavische Nachahmung des Siegers‘ Auschwitz ermöglichte. Schonungslos und wortgewaltig greift der Autor, der sich vor allem als Chemiker sah, Themen wie ‚Die Scham‘ oder ‚Die Kommunikation und Verständigung‘ im Lager auf. Auch beleuchtet Levi in seinem letzten Buch die ‚Sinnlose Gewalt‘, einen nur scheinbar semantischen Widerspruch.

Das Nacktsein als die ultimative Erniedrigung, welcher sich der Häftling zu schämen hat. Die deutsche Kommandosprache in den Ohren der meist ausländischen Gefangenen. Und der vorherrschende Wunsch der Uniformierten, die Häftlinge sollen nicht nur sterben, sie mögen ihr Leben unter den heftigsten Qualen beenden.

Und dennoch oder gerade deshalb, hinter all den Zeilen stand der fast schon seltsam anmutende Wunsch des italienischen Autors, ‚den Deutschen‘ zu verstehen.
Januar 2021

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BERLIN PREPPER
Thriller von Johannes Groschupf, 2019

Im Mittelpunkt von Berlin Prepper steht Walter Noack. Dieser Noack bereitet sich in seiner freien Zeit auf den Ernstfall vor. Darüber hinaus trägt Noack Army-Kleidung und legt sich Vorräte an. Und wenn es erforderlich, hat er eine Gasmaske zur Hand. Seinen Lebensunterhalt verdient sich der Mann, indem er Hasskommentare bei einer großen Tageszeitung findet und aussondert.

Groschupf erzählt die Geschichte um seinen nicht eben gewöhnlichen Protagonisten ohne dabei eine Wertung abzugeben. Und so solidarisiert sich der Leser mit einem, der obskuren Ideen verfolgt, der sprichwörtlich gegen den Strom schwimmt und dessen Tun konträr zur Mehrheit der Gesellschaft steht. Selbst wenn nach David Hume Moral auf Sympathie basiert, bleiben Antworten offen. Solange er nicht in meinen Teller spuckt, kann ich diesen Typen immer noch sympathisch finden.

Von Haus aus ist Groschupf Journalist, der für Die Zeit und für die taz arbeitete. Nach einem Hubschrauberabsturz und einem einjährigen Krankenhausaufenthalt musste sich Groschupf neu erfinden, er begann Bücher zu schreiben. (Bei Deutschlandfunk Kultur verriet er hierzu in einem längeren Gespräch ein paar interessante Details.) Dennoch stellt sich die Frage, ob er eine Reportage in den angesagten Zeitungen mit dem Thema seines Romans untergebracht hätte. Menschen, die der deutschen Tugend etwas zu sehr nacheifern und fast manisch Vorsorge treffen, indem sie dutzende Mehltüten und Ravioli in Dosen horten. Menschen, die den Staat BRD nicht anerkennen. Menschen, die sich für das Land eine starke Hand, besser noch einen Führer wünschen.

Berlin Prepper
ist ein sauber recherchiertes Buch, das sich mit realistischen Mitteln jene Randerscheinungen beleuchtet, welche längst einen festen Platz in der Mitte unserer Gesellschaft gefunden haben.
Dezember 2020

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DAS SPIEL SEINES LEBENS
Thriller von Harlan Coben 1995, dt. 2016

Als hätte der Sportagent Myron Bolitar nicht genug mit seinen Schützlingen zu tun, die er betreut und für die er, wenn notwendig, den einen oder anderen lukrativen Vertrag aushandelt. Da taucht auch noch seine verflossene Liebe wieder auf und es verdichten sich die Hinweise, dass deren Schwester zwar verschwunden ist, wohl aber lebt – oder wie sonst lassen sich die Grüße aus dem Jenseits erklären?

Harlan Cobens Buch Das Spiel seines Lebens gilt als sein gelungener Einstand der Bolitar-Reihe.

Die Dialoge sind witzig, das Tempo straff und die Figuren sind nicht zu oberflächlich gezeichnet. Der Leser erhält Einblick in die wenig lustvolle Arbeit von Telefonsex-Anbietern sowie dem Wirken abseits der Spielfelder, wo die eigentlichen Kämpfe ausgetragen werden. Selbst am Schluss gelingt es Coben, das Niveau seiner flott erzählten Geschichte zu halten und mit einem unerwarteten Zieleinlauf das Match zu beschließen.
Dezember 2020

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WAS VON AUSCHWITZ BLEIBT

Das Archiv und der Zeuge

von Giorgio Agamben 1998, dt. 2003

G. Agamben, der mit seiner Erzählung des Ausnahmezustands, der Philosoph unserer Tage sein könnte, nähert sich in dem Band Was von Auschwitz bleibt der Problematik unsicherer Zeugenschaft. Ausgehend von Primo Levis Überlegung, dass die eigentlichen Botschafter der Gaskammern nur die sein können, die Auschwitz nicht überlebten, richtet Agamben seinen Blick auf den sogenannten Muselmann. Wie kann der, mit J. Amerys Worten, von seinen „Kameraden aufgegebene Häftling“ ... und „wankende Leichnam“ einen glaubhaften Bericht von seinem Über-Leben erstatten, wenn der Muselmann eben nicht überlebte? Und wie lässt sich die Scham des Überlebenden produktiv für ein Erinnern nutzen, bei dem Lücken und Fragmente allemal einem vererbten Schweigen vorgezogen werden?
Was von Auschwitz bleibt
ist ein anspruchsvoller Exkurs, der mit seiner Fülle von Thesen und Zitaten, etappenweise zu lesen ist.

November 2020

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DUNKLER ALS DIE NACHT
von Michael Connelly, 2001, dt. 2008 

Obschon die Titelfigur Harry Bosch mit seiner kühlen Unnahbarkeit und seiner geheimnisvollen Aura ein guter Bekannter von Sam Spade oder Philip Marlowe sein könnte, ahmt M. Connelly mit seinem Schreibstil weder D. Hammett noch R. Chandler nach.

Gänzlich ohne Ironie, dafür sachlich und nüchtern, geradlinig und schnörkellos erzählt M. Connelly seine Geschichte. Während Detective H. Bosch als Zeuge vor Gericht steht, wird er plötzlich von den ‚eigenen Leuten‘ des Mordes verdächtig. Auch wenn sich das Zwielicht am Ende als gezielte Aktion Boschs betuchter Gegner erweist, entlässt M. Connelly den Leser in einen Umstand, den der Romantitel passend beschreibt. Diesen Harry Bosch traut man durchaus den einen oder anderen unlauteren Übertritt zu. Denn dieser Detective hat, wenn es in seine Vorstellung von Gerechtigkeit passt, keine Skrupel, den Pfad der Gesetzmäßigkeit zu verlassen.

Das besitzt einen sehr unterhaltsamen Reiz, selbst wenn das Beleuchten der Schattenseiten von Ermittlern nicht die Entdeckung von M. Connelly ist. Doch das Thema dürfte dem Leser nicht fremd sein: Um der Wahrheit näher zu kommen, geht man auch mal einen Pakt mit der Unwahrheit ein. „Wir tun, was wir tun müssen“, resümiert Bosch ziemlich abgeklärt auf Seite 456 von Dunkler als die Nacht. „Manchmal hat man eine Wahl. Manchmal hat man keine. Da kann man einfach nicht anders. Man sieht Dinge geschehen und man weiß, sie sind falsch, aber irgendwie sind sie auch richtig.“

Oktober 2020


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NACH ISRAEL KOMMEN
von Wolf Iro, 2019

Mit seinen zehn kurzen Überlegungen beweist W. Iro, der das Goethe-Institut in Jerusalem leitet, dass nicht alles, was gut gemeint ist, auch gut ist.

Ob es um die Verlegung der sog. Stolpersteine oder das zentrale Denkmal für die ermordeten Juden in Berlin oder um die Auftritte deutscher Außenminister in Israel geht, immer wieder wird beherzt in das eine oder andere Fettnäpfchen getreten.

Iros Meinungen müssen sicher nicht alle geteilt werden. Doch mit Hilfe seiner mitunter provokanten Denkanstöße erfährt manch scheinbar Bewährtes eine ganz neue Gestalt.
August 2020

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BLUTIGER WINTER
von Tom Callaghan 2014, dt. 2016

Der Titel Blutiger Winter ist Programm. Die Story um den Inspektor Borubaew ergeht sich in ein unermüdliches Gemetzel aus Blut, Schweiß und Tränen, während die Sprache auf dicke Hose macht. Eine Brutalität folgt der nächsten. Es wird vergewaltigt, zerstückelt und Föten werden entwendet und fremdgelagert. Und als würde dieser aufgepumpte Reigen von Gewalt nicht genügen wird alles mit einer schwerverdaulichen Soße aus Kraftausdrücken gewürzt. Allein, dass die Handlung weitab der üblichen Metropolen wie New York oder Berlin, sondern im fernen wie winterlichen Kirgisien angesiedelt ist und der Autor mit seinen knappen Kapiteln gekonnt Lust aufs nächste Kapitel macht, belohnt das Weiterlesen. Denn spannend und reich an Wendungen ist die Geschichte allemal.

Über das erste Opfer resümiert der verwitwete Inspektor: „… eins der natürlichen Opfer des Lebens. … Die Sorte Frau, die ständig gegen Türen läuft, bis eines Tages eine zu hart zuschlägt und sie draußen stehenlässt.“
Juli 2020

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WILLNOT
von James Sallis, 2019

In Willnot werden in einer Grube Leichen entdeckt, ein Arzt geht seinem Job nach und ein Scharfschütze taucht auf, um freundlich Hallo zu sagen. Darüber hinaus lernen die Leser den Kater Dickens kennen und eine Vielzahl der Patienten des Mediziners. Wie die Körper in die Grube gelangt sind und was es sich mit dem Sniper auf sich hat, dies bleibt im Ungefähren. Denn auch in diesem Buch geht es Sallis vorrangig um die Auswirkungen, die bestimmte Taten hinterlassen. „Willnot war ein See, in den Steine geworfen worden waren“, heißt es an einer Stelle, „der aufgewirbelte Schlicksand hatte sich noch lange nicht gelegt.“ Das ist nicht eben spannend, wohl amüsant zu lesen, denn Sallis dokumentiert den Alltag seiner Leute staubtrocken und verstreut seine Bonmots derart beiläufig, dass es eine Freude ist. So ist auf einer der letzten Seiten z.B. zu lesen: „Jeder Tag ist ein Geschenk – in schäbigem Einpackpapier.“
Juli 2020

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DEM HERRGOTT ZUVORKOMMEN
von Hanna Krall, 1977, dt. 1992

In der Form einer wilden Collage und eingestreuten Gesprächen erzählt die polnische Autorin über den Warschauer Ghettoaufstand. Fällt es einem als Leser hin und wieder schwer, klar zu benennen, wer im Text gerade spricht, berühren die Leidens-Geschichten, die manchmal nur wenige Zeilen ausmachen. Die angerissenen Biographien erinnern an den Bindestrich, der zwischen Geburts- und Sterbejahr steht (Chr. Boltanski).

Dem Herrgott zuvorkommen hieß für die Aufständigen, dass sie sich nicht freiwillig zur Schlachtbank führen lassen, sondern mit erhobenem Kopf in den Tod gehen wollten. Oder mit den Worten der Autorin: „Auf der Höhe des absoluten Anspruchs, auf die die Verzweiflung sie geführt hatte, gab es für sie keine andere Lösung, als zu sterben.“

Das umfangreiche Nachwort von Tzvetan Todorov hilft einige Hintergründe und Zusammenhänge noch besser zu verstehen.
Juli 2020

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WENN DIE ERINNERUNG KOMMT, 1978, dt. 1979, 2007
PIUS XII. UND DAS DRITTE REICH, 1964, dt. 1965, 2011

KITSCH UND TOD
, 1982, dt. 1986
von Saul Friedländer

Drei Bücher, die das weite Spektrum von Saul Friedländer bestens abbilden. In Wenn die Erinnerung berichtet der Autor in kunstvoller Montage von seiner Kindheit in Prag, den Fluchtversuchen mit den Eltern, seinem Unterkommen als Christ und über seine ersten Jahre in Israel. Im Band Pius XII. und das Dritte Reich dokumentiert Friedländer akribisch das laute Schweigen des Vatikans gegenüber der Verfolgung und Vernichtung von Juden. Es ist davon auszugehen, dass zu den von Friedländer gefundenen Papieren noch einige dazukommen, hat doch der amtierende Papst die hauseigenen Archive öffnen lassen. Eine deutsche Forschergruppe weilte bereits in dem Archiv, wurde aber durch die Corona-Krise ausgebremst.

In Kitsch und Tod zeigt Friedländer anhand verschiedener Beispiele, wie das Tausendjährige Reich samt ihrer Führer in der zeitgenössischen Belletristik und Filmkunst behandelt werden.   

Ob als Autobiograf, als Chronist oder als wacher Zeitgenosse, besser lässt sich Friedländers Arbeit als Historiker nicht belegen: Die jüdische Geschichte ist nur mit den Stimmen der Opfer zu erzählen.

Mai 2020

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DIE DREHUNG DER SCHRAUBE
Novelle von Henry James, 1898, dt. 2002

Als die Menschen noch ohne Fernseher auskommen mussten, schenkten Tageszeitungen ihren Lesern mit launigen Folgen längerer Erzählungen einen unterhaltsamen Abend. Und so ist es heute gut vorstellbar, dass man auf die tägliche Fortsetzung von Die Drehung der Schraube voller Ungeduld wartete, schließlich enden fast alle Kapitel mit einem offenen Ende, dem berühmten Cliffhanger. 

Eine namenlose Gouvernante nimmt sich der Betreuung zweier Waisenkinder an. Und schon am ersten Tag erscheint der Ich-Erzählerin ein toter Hausdiener. Wenig später taucht das verstorbene Kindermädchen auf.

Wie nun die Gouvernante die zu betreuenden Kinder liebkost und ins Herz schließt, sieht sie den Frieden der armen Kinderseelen durch den Hausdiener und das ehemalige Kindermädchen bedroht.   

Um in dem eingangs gewählten Bild zu bleiben: In seiner Novelle bedient sich Henry James eines Tricks, der später in Filmen seine Vollendung fand. Die Beschreibung des Grauens überträgt der Autor dem Leser. Der wahre Grusel entsteht im Kopf des Rezipienten. James, sonst mit Ausschmückungen von Szenen nicht eben geizig, übergeht genauere Angaben, wie die Geister ums Leben kamen und weshalb sie dermaßen erschrecken. Die Untoten enthalten sich jeder Aktion, sie erscheinen stumm und reglos, als wären sie Fundamente einer Hysterie oder zumindest Resultate einer nervösen Vorstellungsgabe. Es obliegt dem Leser, der Wahrnehmung der Ich-Erzählerin zu folgen oder diese anzuzweifeln.

Somit dreht sich die Schraube durch eine Vielzahl sanfter Andeutungen und entfaltet ‚unausgesprochen‘ ihre Spannung. (Anders in der ähnlich gelagerten Geschichte ‚Der Untergang des Hauses Usher‘ von E. A. Poe, in der die Erscheinung eine klare Zuordnung erhält.)
Mai 2020

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KURT GERSTEIN ODER DIE ZWIESPÄLTIGKEIT DES GUTEN
von Saul Friedländer, 2007

Friedländers biografische Skizze über Kurt Gerstein zeigt einen Menschen, der der Waffen-SS beitrat, um Schlimmeres zu verhindern bzw. um vom Bösen zu berichten. Anhand von Briefen, Tagebucheintragungen und Erinnerungen zeigt Friedländer, dass dieser Tanz mit dem Teufel Gerstein, der der Bekennenden Kirche nahe stand, nicht nur grundlegend veränderte sondern an den Rand der Existenz brachte.

Seine Erlebnisse in Konzentrationslagern, die Gerstein mittels Belege und Beweise an Diplomaten sowie an Geistliche übermittelte, bilden den einen Teil der/seiner Geschichte. Der andere Teil ist jener, der die Resonanz auf jene Berichte aufzeigt. Allenthalben war Betroffenheit zu registrieren, Optionen aber für klare Handlungen oder gar Interventionen blieben aus.

Gerade erst hat ein deutsches Forscherteam Anfang März 2020 Zugang zu den Archiven des Vatikans erhalten, um sich mit der Rolle der Kirche und Pius XII. während der Shoah zu befassen. Was die deutschen Theologen und Historiker nach wenigen Tagen Arbeit bislang sagen konnten, war, das Wissen um die Vernichtung der Juden war nicht nur vorhanden, es war sogar zigfach belegt.
März 2020

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TIERE IM NATIONALSOZIALISMUS
von Jan Mohnhaupt, 2020

In sechs kurzweiligen und dennoch sehr informativen Kapiteln klärt der Autor über den Stand der Tiere im Nationalsozialismus auf. Dabei ist von Hunden und Schweinen, von Pferden und der Kleiderlaus die Rede. Sowie vom hehren Ton, den die Vertreter des Nationalsozialismus gern anschlugen, ging es um das Wohl der Tiere.

Gerade wenn der Autor die innige Beziehung eines Soldaten zu seinem Pferd und eines geschassten Gelehrten zur Familienkatze beleuchtet, wird das Grauen hinter dem staatstragenden Tierschutz sichtbar. Durchaus verzichtbar wäre dafür die eine oder andere Ausführung zu Hitlers vermeintlicher Hundeverliebtheit gewesen, bedienen diese Zeilen den Boulevardton einer abendlichen ZDF-Reportage aus dem Haus Guido Knopp.

Mag es höchst verwunderlich sein, dass Tiere im Nationalsozialismus in der schieren Masse an Literatur über die besagte Zeit als Randerscheinung vorkommt, mit Sicherheit hat Mohnhaupt mit seinem Buch eine erste wichtige Vorgabe geliefert.
März 2020


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WER HAT MEINEN VATER UMGEBRACHT
von Édouard Louis, 2018, dt. 2019

Wer sich als deutscher Bürger schon immer wissen wollte, wie es die Franzosen schaffen, über Monate mit ihren gelben Westen die Straßen zu blockieren, dem sei das Buch empfohlen. Es vermittelt eine Ahnung woher jene Wut stammt, die viele Franzosen gegen den schleichenden Abbau von Sozialleistungen auf die Barrikade ruft – und dies dauerhaft.

Was sich zunächst wie eine bittere Abrechnung mit dem eigenen Vater liest, entpuppt sich auf den letzten Seiten als Anklageschrift gegenüber namentlich genannten Vertretern der Regierung. So herzzerreißend sich Louis seinem prügelnden und trinkenden, aber auch umsichtigen wie liebevollen Vater mit seinen uneitlen Schilderungen annimmt, so kompromisslos und vor allem polemisch zieht der Autor gegen Sarkozy, Hollande und Macron zu Felde. Mehr noch. Die Frage, die im Titel des Textes mitschwingt, wird von Louis gleich selbst beantwortet: Denn dass es seinem Vater so dreckig geht, hat einen einfachen Grund: „Jaques Chirac und Xavier Bertrand machten deinen Darm kaputt.“ … „Nicolas Sarkozy und Martin Hirsch haben dir das Rückgrat gebrochen.“
Februar 2020

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DAS IST ALISE
Novelle von Jon Fosse, 2003

Signe, eine ältere Frau, liegt auf einer Bank in ihrem Haus. Und während die Frau ihren Mann Alse sieht, der vor vielen Jahren verschwand, entdeckt sie die Ururgroßmutter Alise.

In einer Sprache, die von häufigen Wiederholungen und raschen Perspektivwechseln lebt, erschafft der norwegische Autor eine Vielzahl von Leben. Wobei das Haus, in dem Signe liegt und in dem ihr Mann aufgewachsen ist, als eigenständiges Wesen die Geister der Vergangenheit wachhält.
Februar 2020

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DER MÖRDER IN MIR
von Jim Thompson, 1952, dt. 1992

Wer im Internet den Namen Jim Thompson eingibt, stößt auf einen Unternehmer, der recht erfolgreich mit Seidenstoffen handelte. Erst beim zweiten Blick entdeckt man den Autoren Jim Thompson. Für die Namensgleichheit können die beiden Männer nichts. Verfolgt man aber den Lebenslauf des Autors Thompson, bringt man ihn weniger mit feinen und teuren Stoffen in Verbindung. Gleichen sich auch die Namen, so unterschiedlich bleiben die Personen, die den Namen tragen. Soweit so gut.

Ähnlich ergeht es der Titelfigur von Der Mörder in mir. Lou Ford ist ein allseits beliebter Deputy Sheriff und Konfliktlöser. Und gleichzeitig ist er ein brutaler Mörder. Dieser Lou wird von zwei gegensätzlichen Polen beherrscht. Am frühen Morgen ist er der empathische und liebende Lou, gegen Mittag drückt er seinem vermeintlichen Freund den Kehlkopf ein und am Abend sitzt der Protagonist bei dem Vater des Opfers, um ergriffen und stockend sein Beileid kundzutun.

Anders als in der Novelle Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde von Robert L. Stevenson, in der der geachtete Arzt Dr. Jekyll ein Elixier benötigt, um sich in eine mordende Bestie zu verwandeln, genügt Lou ein klarer Gedanke oder der passende Zeitpunkt. Das ist ungemein fesselnd beschrieben, obschon es schwer fällt, der Ich-Person auch nur den kleinsten Ansatz von Verständnis entgegenzubringen. Das ungeschriebene Gesetz, dass früher oder später jeder Titelheld das Herz seines Lesers erobert, greift bei Thompson nicht, besser gesagt: es ist gar nicht vorhanden.
Februar 2020

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BITTERES ENDE
von Robert B. Parker, 2009, dt. 2012

Mit Witz und einem ausgeprägten Spürsinn klärt Detektiv Spenser auch diesen vertrackten Fall. Vier Frauen heuern Spenser an, da ihr Gigolo sie allesamt erpresst. Bis eine der Damen aus der Reihe tanzt, weil sie den Vielliebhaber für sich haben will.

Dashiell Hammett hatte einige Jünger. Einer, der die Tradition der temporeichen wie dialogbetonten Detektiv-Geschichte fortführte, war zweifellos Parker. Mit seinen zugespitzten, teilweise kunstvollen Dialogen, seiner Lakonie und seinem Blick für all die Unglücksraben, die irgendwann aus dem Nest gefallen sind, erschuf Parker einen Detektiv, der den Schnüfflern von Hammett um nichts nachstand. Nur mit dem feinen Unterschied, Spenser bevorzugt Bier und erfreut sich einer Frau an seiner Seite.

Bitteres Ende zählt zu den letzten Werken von Parker, für den die Schreibblockade ein Fremdwort gewesen sein musste – gemessen an der unüberschaubaren Menge an Büchern, die er hinterließ. Sein grüblerischer und dem Alkohol zugetaner Polizeichef Jesse Stone schaffte es sogar in der Verkörperung von Tom Selleck zu einer beliebten Filmfigur.
Januar 2020

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QUERCHER UND DIE THOMASNACHT
von Martin Caslow, 2013

Mit diesem Band läutete der Autor seine Reihe um den (ehemaligen) LKA-Beamte Max Quercher. Dass der ‚knorrige‘ Bulle damals noch kurz vor seiner Pensionierung steht – geschenkt. Da das Böse nie schläft, muss die faule Haut eines ewigen Schnüfflers warten. Sechs Bücher sind bisher mit M. Quercher erschienen.

In der Thomasnacht kommt der Ermittler düsteren Entwicklungen in den heimischen, wie in den Amtsstuben auf die Schliche. Doch damit nicht genug: Unselige Schatten der Vergangenheit und eine geheimnisvolle und selbstverständlich schöne Frau bringen den Fast-Pensionär um den Schlaf. Mit schmutzigem und obendrein blutigem Geld soll ein Dorf aufgefrischt werden.
Damit dies reibungslos über die Bühne geht, verlieren einige Un-/Beteiligte ihr Leben.  

Das alles liest sich ungemein flott vom Blatt, wobei man sich hin und wieder überlegt, ob der nächste Urlaub wirklich an den Tegernsee gehen soll. Einzig bei einer Szene stockt einem der Atem. Querchers junge Mitarbeiterin Arzu, ‚Münchens schönste Klugscheißerin‘, nimmt einen Termin bei einem Gynäkologen wahr. Doch der Mediziner entpuppt sich stattdessen als ein Sadist mit einem überaus emphatischen Hauch.

Dezember 2019

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PATENTÖCHTER
Im Schatten der RAF – ein Dialog
von Julia Albrecht und Corinna Ponto, 2011

Am 30. Juli 1977 besucht Susanne Albrecht mit zwei Freunden ihren Patenonkel, den Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Jürgen Ponto. Kaum hat Ponto die drei Gäste begrüßt, eröffnen diese das Feuer auf den Mann. Während Ponto den Schüssen erliegt, flüchten B. Mohnhaupt, Ch. Klar und S. Albrecht. Mohnhaupt und Klar werden noch in der alten DRD verhaftet, S. Albrechts Flucht dauerte bis Juni 1990 an. 

Viele Jahre später, zwischen der Familie Albrecht und Ponto herrscht verständliches Schweigen, schreibt Julia Albrecht, die jüngere Schwester von Susanne A., der Tochter von Jürgen Ponto. Corinna Ponto, Patentochter von Hans-Christian Albrecht, geht auf das Schreiben ein, die beiden Frauen treffen sich.

Aus dieser Annäherung von zwei geschädigten Frauen entspinnt sich ein Wechsel von Briefen und Stellungnahmen, Überlegungen und individueller Geschichtsschreibung.

Julia Albrecht und Corinna Ponto gelingt es, ein sachliches und offenes Buch zu schreiben, das kaum eine Frage auslässt, die sich ein Opfer von Gewalt und ein Angehöriger des Gewalttäters stellen können. Corinna Ponto ist es dabei zu verdanken, dass sie unter anderen schonungslos auf die fehlende zweite Chance des Opfers verweist, während dem Täter diese vom Gesetz her zugebilligt wird. Und Julia Albrecht hinterfragt den für die Familienangehörigen zum Überleben wichtigen Schutzwall von Hoffnungen und Halbwahrheiten, wenn aus ihrer Mitte einer, in diesem Fall die Tochter bzw. die Schwester, mit allen Konventionen bricht.
November 2019

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AM FENSTER
Roman von Luc Bondy, 2009 

Derjenige, der am Fenster steht oder sitzt, schaut einer Welt zu, der er im Moment nicht angehört. Oder anders: Das Fenster versinnbildlicht den Zwischenraum von Innen und Außen, von geschützter Privatsphäre und dem Sich-Einbringen in die Gesellschaft.

Der einstige Regieassistent Donatey kommt nach einem Krankenhausaufenthalt nach Hause und versucht – mit einer Schiene im Rücken – das Beste aus seiner Situation zu machen. Steif und somit in seinen Bewegungen mehr als eingeschränkt nimmt er Anteil am Leben, in dem er das Treiben unter seinem Fenster beobachtet. Doch viel genauer und intensiver fällt sein Blick zurück. In den Erinnerungen kann er leichtfüßig spazieren gehen, manchmal verharrt er und nimmt freudig wahr, wie er sich in Widersprüche verhakt. Dabei nagt fast manisch die Befürchtung an ihm, dass die viel jüngere Freundin ihn verlassen könnte. 

Wer um Luc Bondys Geschichte weiß, den vielen Operationen und dem stoischen Erdulden langanhaltender Qualen, kommt nicht umhin, Donateys (Körper- und Welt-)Entfremdung als die des Theaterregisseurs und Autors zu lesen.

(Wenige Jahre später gehen Knausgard und Espedal einen Schritt weiter: Sie bleiben beim Erzählen bei sich, als misstrauten sie dem Fiktionalen – wohlwissend, dass nur die Träume den wahren Teil von uns ausmachen.)
November 2019

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RAVEL
2006, dt. 2014

LAUFEN

2008, dt. 2010

zwei Romane von Jean Echenoz

Auf denkbar kleinsten Raum von etwas als hundert Seiten schafft es Echenoz bei den genannten Büchern dem Leser zwei Persönlichkeiten mit ihren Eigen- wie Besonderheiten vorzustellen. In Ravel geht es um den Komponisten Maurice Ravel, der in Deutschland vor allem durch ein Musikstück bekannt wurde. In Laufen setzt der französische Autor dem tschechischen Ausnahmesportler Emil Zátopek ein würdiges Denkmal.

Beide Romane verfolgen die Leidenschaften zweier Protagonisten, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Da der gefeierte Schöngeist, der in einer Welt der Dissonanzen harmonische, nicht seichte Töne abtrotzt. Dort der sich schindende und dennoch lächelnde Athlet mit Pudelmütze, der im Laufen seine Bestimmung sucht und findet.

Dabei unterbricht Echenoz hin und wieder das hehre Aufzählen der Jahresringe, in dem er unvermittelt ins lockere Plaudern fällt. So bleibt vieles in der Schwebe. Historische Romane im herkömmlichen Sinne, in denen Tatsachen chronologisch abgearbeitet werden, sind die zwei schmalen Bände sicher nicht. Eher dienen sie als furchtlose Annäherungen, die die Ambivalenzen und Stimmungen von teils nachweisbaren und teils möglichen Erlebten einfangen.
Oktober 2019

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VON DEN KRIEGEN
von Arno Surminski, 2016 

In seinem Buch über die Sprache im Dritten Reich LTI geht Victor Klemperer auch auf die Entwicklung der Todesanzeigen zwischen den Jahren 1939 bis 1945 ein. Klemperer weist nach, wie sich in den stets sparsamen Texten die Sprache zum Ausgang des Krieges hin veränderte.

In Von den Kriegen erhält ein junger Student der älteren Geschichte von seinem Professor eine Plastiktüte voller Todesanzeigen. Bei einer Wohnungsauflösung fanden die Räumer die Zeitungsausschnitte. Diese wegzuschmeißen, so im beigelegten Brief, käme einer Beleidigung der Toten gleich. 

Gero Warnecke, der Student, ist zunächst mit den vielen Anzeigen aus dem Zweiten Weltkrieg überfordert. Was soll er damit? Oder anders gefragt: Was haben die mit ihm zu schaffen? Beim Ordnen der Schnipsel und dem Versuch, mittels einer Struktur etwas besser zu verstehen, kommt Warnecke dahinter, dass ein gewisser Horst Bart die Anzeigen aufgegeben hat. Immer wenn sich der Todestag von einem Kameraden zum z. B. sechszigsten Mal jährte, ließ Bart eine Anzeige veröffentlichen.

Allein dieses ungewöhnliche Unterfangen stellt Warnecke vor weitere Fragen. Wie statthaft ist es, Soldaten, die in Länder einfielen, die brandschatzten und töteten, Jahre später zu ehren? Geht man nicht Gefahr auch jene zu gedenken, die vielleicht der SS dienten? Ist es die Sinnlosigkeit, die jedes Sterben der meist jungen Soldaten oder Gefreiten eint, die den unbekannten Horst Bart antrieb? Oder ist das späte Veröffentlichen der Todesanzeigen die Rache eines stillen Revanchisten, für den das Fundament der heutigen Gesellschaft aus den Leichenbergen des letzten Krieges besteht?

(In seiner Rede zur Entgegennahme des Weimar-Preises am 03.10.1995 verwies Preisträger Jorge Semprun ausdrücklich daraufhin, dass das deutsche Volk ‚das Hauptopfer des Nationalsozialismus‘ war.)

Natürlich verraten die Todesanzeigen nur die Geburts- und Sterbedaten, maximal noch die Städte und den militärischen Rang, nicht aber, mit welchen Aufgaben der Gefallene betraut war oder wie viele der gegnerischen Soldaten er umgebracht hat. Und wie zu erwarten stößt Warnecke mit seinen Fragen auf keine eindeutigen Antworten. Dass sich aber mit ihnen ein 1989 geborener Student zunächst widerstrebend und alsbald interessiert befasst, lässt aufhorchen.
Oktober 2019

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14
von Jean Echenoz, 2012, dt. 2014

Der sparsame Titel 14 passt zu dem Buch. In fünfzehn Kapiteln erzählt J. Echenoz die Geschichte von sechs Menschen, die ein Ereignis eint: Der Erste Weltkrieg.

Immer wieder fällt der Autor sich selbst ins Wort und behauptet, man wisse schließlich wie alles ausging. Dennoch gelingt es ihm eigene Sichtweisen zu entwerfen. Dabei stellt er scheinbar Nebensächlichkeiten in den Mittelpunkt seiner Betrachtung, die bisher gern übersehen wurden. Mal sind es die Tiere, denen die Soldaten auf Schritt und Tritt begegnen. Dann wieder der massive Qualitätsschwund bei den Armeestiefeln. Auch macht er sich Gedanken über das Für und Wider einer Verletzung, die den Soldaten zwar zum Invaliden macht, ihn aber gleichzeitig mit einem Ticket nach Hause versieht. 

Erzählt wird einem lakonischen und knappen Ton, der sich gern und ausgiebig einer subtilen Komik bedient, die in jeder Dramatik schlummert.
Oktober 2019

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DIE SCHULE DER EGOISTEN
Roman von Eric-Emmanuel Schmitt, 1994, dt. 2006 

Bücher, die sich der Liebhaberei von Büchern und des Lesens annehmen, haben ihren eigenen Reiz. Immer hat der im Buch auftretende Leser gewisse Ähnlichkeiten mit einem selbst. Doch so vernarrt, so verschroben, wie der ist man aber noch lange nicht. Man teilt dessen Leidenschaft, den Büchern das Ja-Wort gegeben zu haben und weiß sich doch durch eine Distanz geschützt. Hatten J. L. Borges und E. Canetti das wunderliche Tun bibliophiler Geister bereits vortrefflich beschrieben, dass eine Steigerung schwer möglich schien, versucht es der französische Autor Schmitt mit Die Schule der Egoisten.

Ein Student, der an seiner Dissertation schreibt und sich somit mehr in der Bibliothek als daheim aufhält, bekommt durch Zuf ein Buch in die Hand, das völlig anders ist, als jene Bücher, die auf seinem Tisch liegen. Dieses Werk hebt sein nüchternes und ereignisarmes Leben vollkommen aus den Angeln: Da behauptet doch der einstige Salonlöwe, Schönling und Vielschwätzer Gaspard Languenhaert, dass die Welt lediglich in seiner Vorstellung existiert. 

Schmitt zeichnet die selbstvergessene, fast manische Suche des Studenten nach weiterem Material zu und über Languenhaert als ein ständig verzwickter werdendes Puzzle, dem Züge eines soliden Krimis innewohnen. Und dies alles in einer Sprache, die spielerisch einen Zauber entstehen lässt, der einen als mündigen Leser dazu animiert, die Theorie von Languenhaert freudig aufzunehmen und willig weiterzuspinnen. 

Noch heute kursiert im Netz die Frage eines Lesers, der im Jahr 2006 wissen wollte, ob es diesen Gaspard Languenhaert wirklich gab. Die eine Antwort, die ebenfalls nachzulesen ist, verneint kategorisch, verweist aber recht spitzfindig auf den eigentlichen Vornamen vom „Hyperegosit“ Max Stirner, der Johann Caspar hieß (Kaspar im franz. oft Gaspard geschrieben).
September 2019

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ES WAR EINMAL EINE FAMILIE
von Lizzie Doron, 2002, dt. 2009

Während Lily Brett die lieben Eigenarten ihrer Eltern mit leisem Witz beschreibt, meidet L. Doron jeden noch so kleinsten ironischen Unterton. Ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten des Lesers erzählt Doron vom existenziellen Pendel nach Auschwitz: ist das zweite Leben ein Geschenk oder aber ein Fluch.

Helena reist in den neunziger Jahren nach Tel Aviv, um die Beerdigung ihrer Mutter zu organisieren. In den Tagen der Trauer, die Helena im Haus der Mutter verlebt, begegnet die Tochter vielen Menschen aus ihrer Kindheit. Überrascht muss sie feststellen, dass nach all den Jahren viele der Nachbarn noch immer an den Wunden des Krieges leiden: ungehemmt und für alle hörbar oder zurückgezogen und an den kleinsten Dingen des Alltags kapitulierend. In einer Stadt, in der es die Sonne das ganze Jahr gut meint, kommt ein Teil der Bewohner über ein Harren in der Dunkelkammer nicht hinaus. Und dass Israel immer wieder in kriegerische Handlungen verwickelt wird und sein eigenes Dasein nicht allein rechtfertigen sondern verteidigen muss, vertieft das Dilemma des kollektiven Hin-und-hergerissen-Seins.
Wenn Kinder vor ihren Eltern sterben, übersteigt der Schmerz alles Sagbare. Wenn aber Kinder vor ihren Eltern, die der Shoa entkamen, im Krieg ‚fallen‘, dann entpuppen sich mögliche Fragen nach Sinn oder Gott zur beleidigenden Farce.

September 2019

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NACHTWANDERN
Eine Reise in die Natur
von Chris Yates, 2012, dt. 2019

In jungen Jahren war ich kein besonders begeisterter Wanderer. Selbst heute bin ich froh, wenn ich nach dem abendlichen Kinobesuch die letzte Bahn noch erwische.

Bei Chris Yates scheint das anders zu sein, völlig anders. Wenn es draußen dunkel wird, kribbeln dem Autor sprichwörtlich die Fußsohlen. Und wenn die Nacht hinter seinem Haus den ersten weiten Schatten schlägt, hält den Mann nichts mehr. Er zieht los. Ohne alles. Also ohne Ziel, ohne Uhr, ohne Telefon, ohne Karte. Gemäß der Erkenntnis von Henry David Thoreau einem anderen großen Freund des Waldes: „Nur der Tag dämmert herauf, für den wir wach sind.“

Mit Witz und Wissen gelingt es dem Yates vortrefflich, seine geballte (Lebens-)Freude, die er bei den nächtlichen Laufübungen verspürt, selbst den bewegungsresistentesten Leser zu vermitteln. Die Schilderungen, wie er den Ureinwohnern des Waldes begegnet und der darauf folgenden beidseitigen, meist lautlosen Beachtung, zählen zu den Höhepunkten des Bandes.
August 2019

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AUF DAS LEBEN!
Witz und Weisheit eines Oberrabbiners
von Paul Chaim Eisenberg, 2017

                Als P. C. Eisenberg nach dreiunddreißig Jahren, die er im Dienst des Oberrabbiners von Wien stand, sein Amt altersbedingt zur Verfügung stellte, dauerte es keine drei Jahre bis sein Nachfolger das Handtuch schmiss. Nicht wenige Fans vom einstigen Oberrabbiner meinten, dass niemand die Fußstapfen von Eisenberg ausfüllen kann.
                 In seinem Buch Auf das Leben! erzählt der Autor in loser Folge und ungemein kurzweilig über das jüdische Leben – wohl wissend, dass es das jüd. Leben nicht gibt. Im entspannten Plauderton geht er auf die Feste und Feiertage, auf die Gebote und Verbote der monotheistischen Religion ein. Um die Gefahr zu entgehen, dass seine Erklärungen und Erläuterungen zu verkopft ankommen, versieht Eisenberg sie mit Anekdoten und kleinen, meist witzigen Geschichten*. Manchmal glaubt man beim Lesen das leise Glucksen des Autors zu hören, wenn er sich und seine Glaubensmenschen mal wieder herzhaft und beschwingt auf den Arm nimmt.

                 *) Es zählt zum Markenkern von Eisenberg, dass er z.B. Zeitungsinterviews gern mit einem Witz beginnt – nicht ohne den Journalisten zuvor zu fragen, ob das für ihn in Ordnung geht …

Juli 2019

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WOLFSZEIT
Deutschland und die Deutschen 1945 – 1955
von Harald Jähner

            Es mag zu einem der seltenen Vorrechte von Kindern gehören, dass die sich nur bedingt für die Geschichten der Eltern und Großeltern erwärmen können. Ich habe in diesem Punkt keine Ausnahme gemacht. Weder habe ich meine Erzeuger oder deren Eltern nach ihrer Kindheit gefragt, noch habe ich mit ehrlichem Interesse ihren zufälligen Ausführungen gelauscht.
           Jähner, Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse 2019, gibt einen Abriss über die ersten zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Historiker bespricht die ‚Strategien der Enttrümmerung‘, erzählt von der ‚Heimkehr der ausgebrannten Männer‘ und zeigt, ‚wie der Nierentisch das Denken veränderte‘. Das Buch ist faktenreich und dennoch rundum lesbar.

           Wenn man den zehn Kapiteln von Wolfszeit etwas vorhalten will, dann, dass das Schwergewicht der Ausführungen bei der westdeutschen Geschichte liegt. Die Mühen, die zwischen Wismar und Zittau herrschten, den Trümmern zu entsteigen, um eine Zukunft zu gestalten, bleiben nur wage gezeichnet.
Juni 2019

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DER PRÄSIDENT

von Georges Simenon, 1958, dt. 1979, 2013
 
           Der Roman führt in einen Bereich, wo die Schatten der Vergangenheit all die hehren Sprüche von morgen einkassieren, wo die langen Messer blitzen, wo nie gänzlich vernarbte Wunden alter Gefechte nässen, wo das Lob ein Sticheln auf hohem Niveau ist, wo noch das schäbigste Hinterzimmer als Konferenzraum herhalten muss, wo das Erarbeiten einer Feindschaft überflüssig wird, weiß man doch Parteifreunde um sich, wo das Gerangel um einen Listenplatz einem Kampf von Gladiatoren gleicht und wo allein eine Kandidatur zur Zielscheibe freundlich gesinnter Heckenschützen genügt. Die Regierungspolitik ist jene Dunkelkammer, die hinlänglich bekannt und beschrieben scheint und dennoch mit ihren Ränkespielen immer wieder zu überraschen oder zu langweilen weiß.

Mag sein, dass das Ringen um die Macht nie ein sauberes, faires oder gar menschliches Geschäft war. Dennoch berührt das Buch durch seine Aktualität. Zwar ist es 1958 geschrieben, doch die Handlung könnte ohne weiteres im Heute spielen. Dem, der das Zeitgeschehen mittels Zeitung oder TV aufmerksam verfolgt, überrollt bei der Lektüre von Der Präsident ein Déjà-vu nach dem anderen. 

Der greise Präsident, den man bestens betreut oder gleichwohl bewacht und dessen Tage klar geregelt sind, nimmt per Radio an der Krise des Landes teil. In einer der Nachrichten erfährt er, dass ein langjähriger Gefolgsmann mit der Regierungsbildung beauftragt werden soll. Der Präsident, der noch ein Ass im Ärmel gegen seinen einstigen Zögling bereit hält, wartet darauf, dass der ihn aufsucht.

Als hätte Simenon zeitlebens seine verschiedenen Wohnsitze einzig mit dem Schreiben von Politthrillern finanziert, gelingt es ihm scheinbar mühelos, ein spannendes Geflecht von Einfluss und Intrige, Missbrauch und Banalität zu spinnen.

Juni 2019


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ZEHNUNDEINE NACHT
von Charles Lewinsky, 2008

Was dem einen die Zigarette danach, ist dem König eine erfundene Geschichte. Und die erzählt ihm (s)eine Prinzessin.

In einer eher schäbigen Absteige gesellt sich regelmäßig ein grober Kerl zu einer dort arbeitenden Frau. Da der Mann im Kiez mit König angesprochen wird, spricht er der Frau die Bezeichnung Prinzessin zu. In zehn und einer Nacht erzählt diese ihrem Kunden zehn und eine Geschichten. Dabei ist der Gast nicht der beste Zuhörer ist, er redet rein und spart nicht, mit einem besseren Verlauf für die Story aufzuwarten. Manchmal schlägt der Mann auch zu, wenn ihm die Geschichte überhaupt nicht in den Kram passt. Doch wenn es spannend oder ungewöhnlich wird, kann der Mann auch die Klappe halten. Und originell sind die meisten Geschichten, es sind keine 0-8-15 Erzählungen, die sich die Frau aus dem Ärmel ihres Negligé schüttelt. Allesamt sind sie skurril, verworren und dunkel.


Bis zum Schluss von Lewinskys moderner Fortschreibung von Tausendundeiner Nacht bleibt offen, in welchem Höhepunkt die Rahmenhandlung zwischen der Prinzessin und dem König gipfelt. Ohne allzu viel verraten zu wollen: ungewöhnlich bleibt es bis zum Schluss.
Juni 2019


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SCHACHBRETTTAGE
Roman von Jörn Birkholz, 2014

Jeder Jungautor kann ein Lied davon singen: sein erstes Buch ist auf dem Markt und die Erde dreht sich trotzdem weiter. Allein 2017 gab es in Deutschland rund 72.000 Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt, da gerät schon mal ein Buch unter den Radar. Also beschließt der Held von Schachbretttage, einschlägige Buchhandlungen gleich selbst zu kontaktieren und auf seinen Darauf-hat-die-Welt-gewartet-Schmöker hinzuweisen. Dass bei den Telefonaten irrwitzige Gespräche entstehen, ist zu erwarten, hinreißend, ja saukomisch aber, wie Birkholz die wenig ertragreiche Odyssee per Telefon beschreibt.

Nach der Werbekampange trommelt sich der junge Autor die Seele aus dem Leib, um an ein paar Lesungen mit seinem Werk zu kommen. Nach dem Motto: wenn schon keiner das Buch kauft, will man doch wenigstens dessen Leser kennenlernen. Und so wird der Autor auf seiner Tour von Desinteresse und Missgunst begleitet, die einzig von den absurden, also realen Erlebnissen in den verschnarchten Pensionen und mit ihren Sternen funkelnden Hotels, in den Büchereien und Buchhandlungen getoppt werden.

Birkholz schreibt respektlos und in einem, um mit seinen Worten zu sprechen, Affenzahn. Dass er auf den letzten Seiten dann noch den geneigten Leser an der Nase herumführt, mag zunächst irritieren, besticht schließlich mit einer überraschenden Unvorhersehbarkeit.
April 2019

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DIE TAGESORDNUNG
von Éric Vuillard, 2017, dt. 2018

Der französische Autor lässt kaum ein Stilmittel aus, um auf etwas mehr als einhundert Seiten den Aufstieg Hitlers zu beleuchten. Mal anekdotisch, mal essayistisch, dann wieder einer Chronik entsprechend unterkühlt sachlich, um wenig später voller Sarkasmus zum Beispiel die Pannen der ‚erfolgreichsten Armee‘ zu beschreiben, die beim ‚Anschluss‘ von Österreich auf der Strecke blieb.

Die deutschen Leser kennen Vuillards Methode, das Arbeiten mit historischen Versatzstücken von Alexander Kluge. Doch der Franzose geht einen Schritt weiter, er scheut sich nicht die Komik in den Begebenheiten bloßzulegen. (Die Szene, in der Hitler den österreichischen Kanzler Kurt von Schuschnigg erst maßregelt und beschimpft, schließlich hinhält, hat schon groteske Züge.)
März 2019

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DER KOMMANDANT
von Jürg Amann, 2011

Ammans Text beruht auf den Aussagen von Rudolf Höß, die der einstige Lagerkommandant nach seiner Verhaftung niederschrieb. Amann versichert in seinem Nachwort, den Text von Höß lediglich gekürzt und einige Passagen umgestellt zu haben.

Der Monolog unterstreicht, was an anderer Stelle bereits unterstrichen wurde: Der Kommandant von Auschwitz war nicht jene Bestie, die man sich mit dem Wissen um das Geschehen in dem KZ von dem Mann gern gemacht hätte. Höß war Familienmensch und Soldat. Bereits mit siebzehn Jahren unterstand ihm ein kleiner Trupp älterer Soldaten. Er verlor früh seine Eltern und hatte dennoch Mühe, sich vom Wunsch des Vaters zu lösen: Dieser sah für seinen Sohn nur den Beruf eines Priesters als sinnvoll an. Höß rettete sich zur Armee. Befehle hinterfragte er nicht, er befolgte sie, wenn möglich, im vorauseilenden Gehorsam.

Sein unmittelbarer Vorgesetzter, Heinrich Himmler, beschrieb 1943 in einer Rede, die er in Posen hielt und bei der er die ‚Endlösung der Juden‘ thematisierte, genau jenen Typ Mensch, der mit seinem Handeln und Denken das ermöglichte, was einem gesunden Menschenverstand zuwiderläuft. „Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 Leichen daliegen. Dies durgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht.“
Februar 2019

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DAS DRITTE LICHT
Erzählung von Claire Keegan, 2010, dt. 2013

Ein Mädchen wird von ihrem Vater zu Verwandten gebracht. Der Vater flieht der Situation, ohne zu sagen, wann er das Kind abholen wird. Selbst die Kleidungsstücke des Kindes vergisst er in seiner Eile auszupacken. So wird das Mädchen von Mrs Kinsella, der Tante, mit Sachen eingekleidet, die sie dem Schrank entnimmt. Später erfährt das Mädchen, dass sie die Hose und das Hemd von Kinsella junior trug.

Das Mädchen ist verwirrt, meinte die Tante doch, es gäbe bei ihnen keine Geheimnisse, dabei ist Kinsellas einziger Sohn tödlich verunglückt. So ist es folgerichtig, dass das Mädchen, als der Sommer sich dem Ende neigt und es zum trinkfreudigen Vater und der überforderten Mutter zurück gebracht wird (ohne heimzukehren), den Grund ihrer Erkältung für sich behält. Es sei nichts passiert, entgegnet sie der Mutter – und bewahrt damit ihr erstes Geheimnis. 

Keegan bedient sich in Das dritte Licht einer Sprache, die lieber aus- und weglässt, statt ein Wort zu viel zu verlieren. Das ist reizvoll und verlockt, die eigene Phantasie zu aktivieren. Es liegt am Leser, einzelne Szenen oder manche Dialoge zu Ende zu denken.
Januar 2019

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VOLK OHNE MITTE
Götz Aly, 2015

Es wird schwierig, der heute vorgetragenen Versicherungen vieler Parteien zu vertrauen, die von sich sagen, nur sie würden die Mitte der Gesellschaft vertreten, ist man mit Alys Buch Volk ohne Mitte in Berührung gekommen. Genau dies, ein Volk ohne Mitte, zeichne die Deutschen aus, behauptet und belegt Aly in seiner Sammlung von Reden und Aufsätzen. Im Laufe seines Berufslebens nahm sich Aly immer wieder der Frage ‚Die Deutschen zwischen Freiheitsangst und Kollektivismus‘ an. Dass sich der Autor mit seinen Arbeiten nicht nur Freunde gemacht hat, zeigen die beiden letzten Aufsätze. Anhand der Vertuschung der NS-Vergangenheit in der jungen und nicht mehr jungen BRD greift Aly auf Arbeiten von Kollegen oder namhaften Instituten zurück und belegt geduldete Kungeleien und gesellschaftlich gewolltes Weggucken. Und wenn die Geschichte im Kreise von promovierten Historikern oder dem Max-Planck-Institut aufgearbeitet wurde, trug rasch jeder einstige Täter den Mantel des Opfers.
Dezember 2018

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LOLA BENSKY
von Lily Brett, 2012, dt. 2015

Die junge australische Reporterin Lola Bensky interviewt die Größen des Musikgeschäfts der späten sechziger Jahre. Sie sitzt mit Jimi Hendrix, Brian Jones oder Mick Jagger zusammen und plaudert über nerviges Lampenfieber, passsende Dröhnungen oder über zügellosen Sex. Dabei bedient Brett mal den leichtfüßigen Tonfall einer Bravo-Lektüre, dann wieder den einer Fallstudie aus einem populärwissenschaftlichen Handbuch. Und nebenher quälen die junge Reporterin Gedanken, mit welcher Diät sie als nächstes ihren Körper schwächen könnte. Die permanente Klage, erneut zugenommen zu haben, obschon Lola Bensky jede Waage meidet, wird erst schlüssig, wenn die Protagonistin von ihrer Kindheit und ihren Eltern erzählt. Mit dem Wissen um ihrer Herkunft verblasst das zuweilen belanglose und raumgreifende Geplauder zwischen den Sternen der Musik und der jungen Reporterin. In ungemein lockerer, zeitweise bissiger Sprache gelingt es Brett, die Frage nach einer möglichen Kindheit zu stellen, deren Eltern Auschwitz überlebt haben. Wie wächst man neben einer Mutter auf, die jeder Frage des Kindes ausweicht, stattdessen Vorwürfe an die übergewichtige Tochter richtet, denn dick waren nur die SS-Leute. Wie findet ein Kind Freude am Leben, wenn die eigene Mutter täglich den Umstand beklagt, dass sie (im Lager) nicht gestorben ist.

November 2018

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DIE DRITTE SEITE

von Primo Levi, 1986, dt. 1992

ICH SUCHE NACH EINER LÖSUNG, ABER ICH FINDE SIE NICHT

P. Levi im Gespräch mit Ferdinando Camon, 1987, dt. 1991

IST DAS EIN MENSCH?

von Primo Levi, 1958, dt. 1991

Mit der nötigen Distanz eines Chemikers, der sich den Elementen nähert, ging Levi in seinen Büchern der Frage auf den Grund, was einen Menschen ausmacht. Und mit der Erfahrung, die ihn, Levi, als Häftling in Auschwitz prägten, mochte die Antwort gleichsam auf der Hand liegen. Doch Levi überraschte stets, indem er selten den Blick des Betrachters, des Chronisten verließ. Er fällte keine Urteile und misstraute jeder Bewertung, dennoch verschwieg er in seinen Schilderungen keine Ungeheuerlichkeit, zu der ein Mensch fähig war.

Die dritte Seite bündelt seine Aufsätze, die Levi für die italienische Tageszeitung ‚La Stampa‘ schrieb. In Ich suche nach einer Lösung zeigt sich Levi als Zweifelnder, der im Diskurs um ehrliche Argumente in der Sinn-Frage ringt. Ist das ein Mensch? gilt als eine der wichtigsten Sammlungen, die sich den Episoden und Porträts aus dem Lager literarisch annahmen. 


20.10.2018 / November 2020

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SCHREIBEN ODER LEBEN
von Jorge Semprun, 1994, dt. 1995

In den Büchern, die ich von Semprun kenne, war es stets die eigene Geschichte, die der Autor in den Kontext der Gesellschaften stellte, in denen er lebte. Als Widerstandskämpfer in der Résistance und gegen das spanische Franco-Regime, als Insasse im KZ Buchenwald, als eifriger, dann gefallener Kommunist und als Ex-Minister, Semprun sammelte genug Erfahrungen, um sich schreibend gleichermaßen mit Ideologien und moderner Lyrik, mit Floskeln der Weltbefreiung und einem Brief auseinanderzusetzen, den Heidegger gegenüber Celan unbeantwortet ließ. 

Schreiben oder Leben ist Sempruns komplexe Annäherung an das eigene Schaffen. Reich an Assoziationen und fortwährenden Zeitsprüngen stellt der Autor die Fragen nach dem Woher und dem Warum. Den Antworten, die er findet oder die sich ihm anbieten, misstraut er rasch, was ihn wiederrum zum noch genaueren Graben und Bohren beflügelt.

Sempruns Schilderungen vom Leben und Sterben in dem Konzentrationslager bei Weimar lesen sich neben den tagespolitischen Themen, die von einer Vogelschiss-Debatte oder den gezielten Störungen bei Führungen in KZ-Gedenkstätten geprägt sind, kraftvoller, weil entschiedener als je. Semprun war alles andere als ein Propagandist, dennoch kann der Ruf „Wehret den Anfängen!“ nur der überlesen, der auf dem rechten Auge blind ist – und das linke geschlossen hält.
13.09.2018

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UNTERTAUCHEN
von Lydia Tschukowskaja 1972, dt. 2015, 2017

Für dieses Buch wurde die Autorin, der es zu verdanken ist, dass das Werk von Anna Achmatowa gerettet wurde*, 1974 aus dem sowjetischen Schriftstellerverband entlassen. (Im selben Jahr warf man auch den kürzlich verstorbenen Autor und Satiriker W. Woinowitsch aus dem Verband – und A. Solschenizyn wurde des Landes gewiesen.) Dabei beschreibt Untertauchen lediglich die eigene Geschichte, die Tschukowaskaja Revue passieren lässt.

In einem Heim für Schriftsteller kommt die Ich-Erzählerin im Frühjahr 1949 allmählich zur Ruhe und – trotz der Ungewissheit um ihren Ehemann, den man elf Jahren zuvor verhaftete – zum Arbeiten. Bei ihren Spaziergängen, die sie zwar am liebsten allein unternimmt, lernt sie dennoch andere Heimbewohner kennen. Und so erfährt sie von einem Autor, dass hinter dem Urteil, das ihrem Ehemann zugesprochen wurde, ‚zehn Jahre Haft mit Briefverbot‘ die sofortige Erschießung stand. Und da 1949 noch lange nicht die Repressalien beendet und die wahllosen Verhaftungen abgeschlossen sind, steuert die Geheimpolizei eines Nachts sogar das beschauliche Domizil der Schriftsteller an.


Untertauchen
gehört zu jenen Büchern, die durch ihre Wucht der zu erzählenden Geschichte bestechen, weniger vom avantgardistischen Stil und der subtilen Wortakrobatik.

Dem vorliegenden Band ist die Rede der Autorin beigefügt, die sie kurz vor ihrem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband hielt. Diese Ansprache macht nochmals die ganze Wucht des erlittenen Schmerzes deutlich: die Funktionäre des Verbandes schoben sie zur Seite und belegten sie quasi mit Berufsverbot, weil sie das Brennglas über die Wunden der sozialistischen Republik hielt: Verhaftung und Verbannung, Lagerhaft und Exekution.

*) in ihrem Buch Ein leeres Haus geht die Autorin genauer auf die abenteuerliche Rettungen der Gedichte durch Auswendiglernen ein
August 2018

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VORRAUM DER KINDHEIT

von Patrick Modiano, 1991, dt. 2014

Es erstaunt mich immer wieder, wie scheinbar leicht und unkompliziert der Autor die losen Fäden, derer er eher zufällig habhaft wird, aufnimmt und mit ihnen seine Geschichten zaubert. Keine Begegnung, keine Lichtspiel im Jetzt, die Modiano nicht an frühere Begegnungen und Lichtspiele denken lässt. Kaum ein Buch, in dem der französische Autor nicht im Heute klare wie eindeutige Verbindungen zu seinem Stammbaum (erschienen 2005) entdeckt. 

Dass, wie in Vorraum der Kindheit, ein älterer Mann auf eine junge Frau trifft, die er zu kennen glaubt, mag sicher schon den einen oder anderen Autor zum unbedingten Schreiben gedrängt haben. Es ist aber einzig Modiano, der so beiläufig, so herzerfrischend einer vielschichtigen Romanze jenen flirrenden, völlig unsentimentalen Ton verleiht, dass man dem Zufall oder dem Freund dankt, der einem das Buch empfahl.


August 2018

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EINE FRAU
Novelle von Marcel Möring, 2007, dt. 2009

Laura ist eine 60-jährige Frau, die ihre Gaststätte wie ihr Hotel umsichtig und konsequent führt. Durch einen Vorfall, sie will den Streit einer Hochzeitsgesellschaft schlichten, wird die Icherzählerin an eine Geschichte erinnert, die sie einst an den Rand der Selbstaufgabe trieb. Stattdessen geht sie für ein paar Jahre nach Australien, um auf einem Weingut den Haushalt zu führen. Und nun, fünfundzwanzig Jahre nach der Tragödie, reißen die Wunden, die sie verheilt glaubte, wieder auf.

Möring, der mit Eine Frau das Thema von Harry Mulischs Zwei Frauen aufgreift, schildert Lauras erneutes Stolpern leise, fast verhalten. Das Buch ist reich an Emotionen und Überraschungen und wie geschaffen für einen verregneten Nachmittag im Sommer.

Juli 2018

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WAHRHEIT GEGEN WAHRHEIT
von Karen Cleveland 2018, dt. 2018

Schön ist es nicht, wenn ein Traum bedroht wird. Wenn ein Traum platzt, bedeutet das für die meisten Katastrophe. Für Vivian Miller, Russlandexpertin und Analystin bei der CIA, genügt die Bedrohung ihres Traums, um sie an den Rand der Verzweiflung zu bringen. Bei ihrer Arbeit stößt die engagierte Mitarbeiterin auf ein Dossier, welches ihren Ehemann eindeutig als einen russischen Schläfer zuordnet.

Karen Cleveland weiß, wovon sie erzählt, sie war selbst einige Jahre beim amerikanischen Geheimdienst beschäftigt. Und die Autorin weiß ebenso gut, wie ihre Mitbürger um die Erfüllung und um den Erhalt des amerikanischen Traums ringen. Somit beschreibt sie den Kampf von Wahrheit gegen Wahrheit nachvollziehbar und emotional, ohne bewährte Hebel in Gang zu setzen, derer sich ein Thriller gewöhnlich bedient. Die Verfolgung per Auto oder zu Fuß und das bleihaltiges Gemetzel zwischen Gut und Böse bleiben in dem Buch außen vor. Doch dafür, dass die sozialen Folgen eines Arbeitsplatzverlustes (siehe Krankenversicherung) benannt werden, kann man Cleveland nicht genug danken. Denn ein wesentlicher Faktor der Angst vor dem Absturz (aus dem amerikanischen Traum) ist eben die Frage: Wie kann ich mein (chronisch) krankes Kind durch den Engpass leiten?

Die Entdeckung, die Miller an ihrem Rechner macht, bedroht rasch ihre Familie, besser gesagt ihre Kinder. Dabei hilft es nur wenig, wenn ihr Mann, den sie auf den Verdacht anspricht, seine Tätigkeit für den Feind unumwunden zugibt und diese nicht mal zu leugnen versucht.

Juli 2018

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DER TOD IN ROM
von Wolfgang Koeppen, 1954  

Einem geläufigen Sprichwort nach führen alle Wege nach Rom. Koeppen lässt in der geschichtsträchtigen Stadt Vertreter eines Landes versammeln, das nur wenige Jahre zuvor die Welt mit einem verheerenden Krieg überzogen hatte. Maßgebliche Akteure fühlen sich wieder sicher oder hadern mit dem raschen Verklingen des Tausendjährigen Reichs. Andere, die Kinder der Stehaufmänner, versuchen aus dem bleiernen Schatten zu treten.

Was hat man Koeppen nach dem Erscheinen von Der Tod in Rom nicht alles vorgeworfen. Die Buchbesprechungen der Zeit vom 4. November und vom Spiegel vom 17. November 1954 sind im Netz abrufbar und vermitteln einen für sich sprechenden Eindruck in die Gedankenwelt. Ein Vorwurf galt den Söhnen der beiden Hauptfiguren, sie seien, hieß es, Verlierer. Die einstigen Kritiker konnten nicht ahnen, dass es mehr als eine Generation bedurfte, um mit dem Trauma jener Taten zu leben, die in der Verantwortung der Väter zu lagen. Auch hielt man Koeppen vor, dass sich seine Helden im Roman nicht entwickeln würden, vielmehr würden sie ihre Eigenschaften nur vertiefen. Wie anders, ließe sich aus heutiger Sicht und mit dem zeitlichen Abstand versichern, sollte man die Unbelehrbarkeit der Väter und Mütter und die Ausweglosigkeit der Söhne auch beschreiben? 

Die Vielzahl der überraschenden Begegnungen, wie sich die familiären Kreise in der italienischen Metropole schließen, ist in dem vielschichtigen wie komplexen Buch sicher dick aufgetragen. Dass sich die Wege aller Beteiligten früher oder später kreuzen, kreuzen müssen, ist dramaturgisch zwingend. Und so entbehrt der letzte Zufall, mit dem die Geschichte zwar fulminant endet, dennoch seiner Logik. Die beständig wechselnde Erzählperspektive verbietet ein flüchtiges Lesen. Wer unterhaltsame Literatur sucht, die entspannt und vom mühsamen Tagwerk ablenkt, wird von dem Buch enttäuscht werden. Wer aber erfahren will, wie die westdeutschen Gespenster wenige Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation tickten, findet hier Beispiele, die schmerzen.

Interessant ist, dass es bis heute keine Verfilmung des Romans gibt. Es gibt Hörspielbearbeitungen, aber auf die bildnerische Widergabe der Geschichten um den prämierten Komponisten Siegfried und seinem Vater, dem Oberbürgermeister Pfaffrath, dem Diakon Adolf und seinem Vater, dem Ex-SS-General Judejahn wurde bisher verzichtet. 

Der Tod in Rom
sollte Koeppens letzter großer Roman bleiben. Koeppens Leser wie sein Verleger erhofften dennoch Nachschub, sie wollten und konnten ein Schweigen nicht akzeptieren. Im 1994 erschienen Miniaturband Ich bin gern in Venedig warum griff Koeppen den Ball auf. „Manchmal glaube ich“, bekannte er, „mit dem Konzipieren und mit dem Anfang eines Werkes alles gesagt zu haben.“

Juni 2018

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DER LÄRM DER ZEIT

von Julian Barnes, 2017

Im Mittelpunkt des Romans steht das Leben von Dimitri Schostakowitsch. Schostakowitsch gehörte zu den bedeutendsten Komponisten der Sowjetunion. Unter Stalin fiel er in Ungnade. Doch im Gegensatz zu vielen anderen wurde er weder verhaftet oder weggesperrt, obschon der Zugriff ihn lange Zeit als Möglichkeit begleitete. So stand Schostakowitsch Nacht für Nacht mit einem gepackten Koffer wartend am Aufzug. Nicht, dass der Komponist sich die Nächte am Aufzug vertrieb, damit seine Familie ungestört schlafen konnte, sollten die Schergen erscheinen, es war das leichte Handgepäck, was dieses Bild überzeichnet: Als stünde eine Reise an. Wäre Schostakowitsch verhaftet worden, er hätte keinen Koffer (mehr) benötigt.

Barnes erzählt nicht chronologisch, mit Hilfe einzelner Episoden und aphoristischen Gedankensplitter verdichtet sich ein etwaiges Bild von einem unsicheren, kränkelnden, stets zweifelnden Mann, den Ruhm und die Nähe zur Macht fast verbrennen. In die Enge getrieben denunziert Schostakowitsch und bewirft seine Vorbilder mit Dreck. Selbst wenn sein Handeln, sein Zögern und Zaudern die nachvollziehbaren Charakterzüge eines Getriebenen sind, sympathisch machen ihn diese Eigenschaften nicht.

Doch um Sympathie für seinen Helden ging es Barnes wohl auch nicht. Der Reiz von Der Lärm der Zeit liegt in der Tatsache, dass Schostakowitsch vom Schicksal der Verbannung und Hinrichtung verschont blieb, obschon man ihn eindeutig im Visier hatte. Er entging dem logischen Urteil, das durch einen Verriss einer Oper nur folgerichtig erschien. Barnes beschreibt Schostakowitschs Überleben als eine schmerzvolle und zunehmend quälende Lebens-Verlängerung. „… da hatte er anscheinend etwas missverstanden“, heißt am Schluss. „Das Unheil, das … für ihn bereithielt, war nicht sein Sterben, sondern sein Weiterleben. Er hatte sein Bestes getan, aber das Leben war noch nicht mit ihm fertig.“

Wie zum Hohn gipfelte der Zeitzuschlag darin, dass die Staatsmacht nach Stalins Tod von ‚ihrem‘ Komponisten diverse Zeichen der Dankbarkeit verlangte/erpresste.
Juni 2018

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HEIMKEHR
von György Konrád, 1998

Der Autor erzählt, wie er als Elfjähriger im Winter 1944/45 mit seiner Schwester und seiner Tante ein Haus in Budapest verlässt, um nach Hause zu fahren. Er kehrt endlich heim. Doch „Die Suche nach dem Paradies“, aus dem der Knabe fliehen musste, um zu überleben, gestaltet sich anders, als er es sich diese erträumt hat.

Konrád lässt den Jungen sprechen. Nur so ist es zu erklären, dass der vorherrschende Ton der Geschichte weder traurig noch sentimental ist. Konráds Junge staunt, er wundert sich sogar über die Unwegbarkeiten, die Hindernisse und Katastrophen, die auf dem Weg ins Paradies schlummern. Sein Rezept, um bei aller Ernüchterung und Enttäuschung nicht an Ort und Stelle durchzudrehen oder wenigstens vom Leben müde in den Straßengraben zu springen, ist die vitale Lakonie, ist der lebenskluge Witz, zu dem einzig Kinder fähig sind.

Die ungarische Literatur hat ungewöhnlich starke und sehr unterschiedliche Stimmen hervorgebracht, die sich in ihren Arbeiten der Zeit des Zweiten Weltkrieges annahmen/annehmen. Neben Konrád ist Dalos zu nennen wie natürlich Kertész und Marai. Es mag an anderer Stelle diskutiert werden, weshalb es der polnischen oder die tschechischen Literatur versagt blieb, im deutschsprachigen Raum mit gleichwertigen Schwergewichten Fuß zu fassen. Dabei wäre es zu kurz gedacht, das Phänomen einzig mit der politischen Lage in Ungarn zwischen 1935 und 1945, der mühelosen Übernahme der faschistischen Ideologie und dem verbrecherischen Treiben der Pfeilkreuzler zu erklären.
Mai 2018

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DER MANN, DER VERLORENES WIEDERFINDET
von Michael Köhlmeier, 2017
 

Um sich dem Wirken und Leben eines Heiligen schreibend anzunehmen, bedarf es mit Sicherheit ein Höchstmaß an Disziplin. Zu verlockend ist die Gefahr, sich blindlings wie ausufernd der Phantasie zu bedienen. Einem Heiligen umweht die Übertreibung, die bei Missachtung des Gleichgewichts schnell ins Lächerliche kippt. In all seinem Tun und Lassen muss der Heilige, um seiner Dimension gerecht zu werden, dem normalen Menschen voraus sein, was, gelinde gesagt, wenig kollegial ist und obendrein langweilt.

Diese Ansätze müssen wohl Michael Köhlmeier bewogen haben, seine Novelle Der Mann, der Verlorenes wiederfindet Bruder Antonius zu widmen, einem Geistlichen, der zwischen 1195 und 1231 in Portugal lebte. Dass sich der österreichische Vielschreiber einmal an eine solche Geschichte wagt, lag jedoch nahe. Wenn man sich den reichen Kanon des Autors anschaut, erkennt man rasch die direkte Linie, die zu diesem Buch führt.

Köhlmeier schildert die letzten Stunden Antonius. Nach einer Rede kommt dieser auf einem Platz zu Fall und überdenkt zwischen heftigen Schmerzschüben und einem komatösen Fieberwahn sein Leben. Dabei bedient sich der Autor seiner Bibelfestigkeit, sein profundes Wissen um historische Zusammenhänge und einstige Sitten, um seiner unerhörten Begebenheit - neben einem erhabenen, fast feierlichen Ton - den glaubhaften Hintergrund zu verleihen.

Das Buch ist keine Kost, die sich auf die Schnelle konsumieren lässt. Was wäre ein Heiliger ohne seinen beschwerlichen Weg der Erkenntnis wie seiner Zweifel. Köhlmeier stellt mit Antonius Fragen, deren schlüssige Antworten noch immer oder neuerliche Fragezeichen zieren: Wie kommt es, dass die Schöpfungsgeschichte von zwei Sonnen zu berichten weiß? Wie konnte sich Gott hinreißen lassen, mit Satan eine Wette abzuschließen?
Mai 2018

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TROTZKI
Das Janusgesicht der Revolution
von Dimitri Wolkogonow, 1992, dt. 2017

Leo Trotzki gehörte zu den schillerndsten Gestalten der Geschichte. Noch heute hält sich hartnäckig die Mär, Trotzki sei ein imperialistischer Verräter der Oktoberrevolution gewesen. Die rasche Tilgung der Fotografien (u.a. mit Lenin) und seines Namens wirkt bis heute: Man hat ihn vergessen. 1879 wurde Trotzki als Leo Davidowitsch Bronstein geboren, wegen politischer Tätigkeit wird er verbannt, nach 1917 mehrfacher Volkskommissar, 1925 erfolgt die Absetzung von allen Ämtern, 1928 beginnt seine erneute Verbannung. Nach einer erzwungenen wie leidvollen Odyssee durch viele Länder, wird er im Sommer 1940 in Mexiko von Stalins Schergen erschlagen. Trotz aller Widrigkeiten blieb er ein begnadeter Redner und exzellenter Schreiber sowie ein eloquenter Verfechter der permanenten Revolution.

Wolkogonow bemüht sich erst gar nicht in die übergroßen Fußabdrücke von Isaac Deutscher zu treten. Dessen Trotzki-Biografie gilt als Meisterwerk, das schwer einzuholen ist. Zu überholen ist es, um den alten Kalauer zu gebrauchen, erst recht nicht. Wolkogonow setzt beim Leser Wissen voraus, um daran mit unterkühltem Esprit anzuknüpfen. Enorm hilfreich ist der von ihm aufbereitete Anhang mit weiterführenden Lesetipps und einem ausführlichen Personenregister. Diese Bündelung von Namen und Lebensläufen führt dem interessierten Leser mit wenigen Zeilen die ganze Dramatik der damaligen Zeit vor Augen. Wolkogonow nutzt ausgiebig seinen Vorteil, indem er sich jener Quellen bedient, die I. Deutscher noch verschlossen waren. Es bleibt abzuwarten, was die Archive verraten, die in naher Zukunft von der Bürde der Geheimhaltung entbunden werden. Das macht Geschichte mitunter ja so spannend: je entfernter diverse Ereignisse im Zeitstrahl liegen, umso begehbarer werden die Landschaften, da die Instrumente zu deren Erkundung endlich griffbereit sind.

Wolkogonow geht auf sämtliche Geschehnisse ein, die Trotzki zeitlebens trieben, bis ihn das System, welches er maßgeblich aufgebaut hatte, als einen Getriebenen geißelte. Zum Kern der Person Trotzki stößt Wolkogonow eher sporadisch. Manchmal erliegt er dem Charme und der Schläue seines Protagonisten, dann wieder fühlt er sich von dessen schroffen Urteilen und brutalem Vorgehen abgestoßen. Wolkogonows bemüht sachlicher wie steifer Ton fällt besonders dann ins Gewicht, wenn er Textstellen aus dem reichen Fundus von Trotzki zitiert. In den angeführten Passagen sprühen die Funken, die bei Wolkogonow fehlen. Was wiederrum unlauter ist, dies als Kriterium anzuführen, da Trotzki, wie bereits erwähnt, ein wirklich begnadeter Schreiber war. Und wenn es um seine Person ging, entfachte er gern mal ein Feuerwerk.
April 2018

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VÄTER UND SÖHNE
von Iwan Turgenew, 1862, in der dt. Übersetzung von 1964 

1980 zählte ich zu den Besuchern der Olympischen Sommerspiele in Moskau. Zwischen zwei Sportveranstaltungen kaufte ich mir für einen Rubel und vierundsiebzig Kopeken das Buch Väter und Söhne von Iwan Turgenew*. Weder besaß ich einen blassen Schimmer von den sportlichen Wettkämpfen, die ich in den Hallen und Stadien verfolgte, noch sagte mir der Autor etwas. Vielleicht sprach mich der Titel des Buches an. Die seltsame Symbiose von Vater und Sohn interessiert mich.

Dennoch harrte das schmale Buch bis heute ungelesen in meinem Schrank. Jetzt, in einem sentimentalen Schub, mich doch einmal mit meiner Kindheit auseinanderzusetzen, nahm ich mir Väter und Söhne vor. Mir war klar, darin keine Antworten auf meine Fragen zum Thema Generationskonflikt zu finden, gegen mögliche Anregungen oder überraschende Sichtweisen hatte ich nichts einzuwenden.

Zwei ungleiche jugendliche Freunde besuchen ihre Eltern – und fliehen vor diesen. Auf ihrer Flucht, die zumindest für den einen halbherzig ist, begegnen sie zwei Frauen, die an ihren Lebensentwürfen rütteln. Im Mittelpunkt des Geschehens steht Basarow, ein junger Arzt, der mehrfach das Schild Nihilist angehangen wird, obschon Turgenew in einem Brief versicherte, „wenn er (Basarow) Nihilist genannt wird, so muss man Revolutionär lesen“. Mit seinen flotten Sprüchen und Bemerkungen brüskiert Basarow eher, als dass er amüsiert. Sein Spott auf die bestehende Gesellschaft treibt jede Unterhaltung voran, wobei sich Basarow im Frotzeln und altklugen Daherreden begnügt, ist er doch ‚zum Untergang verurteilt‘, wie Turgenew in einem Brief notierte, da er erst ‚im Vorzimmer der Zukunft steht‘. (In Gorkis Stück Sommergäste von 1904 bringt es einer der Protagonisten auf den nüchternen Punkt: „Wir gehören nirgendwohin. Wir tun nichts. Wir reden nur schrecklich viel.“)

Das Nachwort in der 1964 erschienen Ausgabe geht auf den geschichtlichen Hintergrund der Geschichte und ihrer Entstehung ein. Dass Turgenew seine Hauptwerke im westlichen Ausland verfasste, weil er Russland, auch wegen Väter und Söhne verlassen musste, verschwieg das ansonsten recht kundige Nachwort.

*) Allein der Umstand, dass ich in der ehemaligen Sowjetunion ein in der DDR verlegtes Werk eines russischen Dichters erwarb, ist eine Anekdote für sich.

März 2018

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Die Bluse
von Hermann Harry Schmitz als Hörspiel, Ursendung 2002

Die Männer kennen das, ein simpler Kauf einer Bluse kann zur radikalen Existenzvernichtung ausarten. Es sind die Bagatellen des nur scheinbar überschaubaren Alltags, die uns (Männer) in den Irrsinn taumeln lassen. In der Groteske Die Bluse ist es der Neffe, der seiner Tante Dorchen beim Kauf behilflich sein will und dabei eine ernüchternde Höllenfahrt erlebt, die ihn und sämtliche Verkäuferinnen altern lässt, während die immer agiler werdende ältere Dame noch ‚Häkchen für hinten‘ benötigt.

Da ist das Warenhaus*, das durch seine Treppen und Gänge, durch seine Etagen und Abteilungen ein grenzenloses Wirrwarr stiftet statt durch eine klare Ordnung und einer eindeutigen Struktur unserem Haben-Wollen genüge trägt. Und da sind die Aufzüge, die sich liebdienernd als sanfte Sänfte anbieten, die einen nach oben wie nach unten schieben, auch wenn sie menschenverschlingende Moloche sind, in denen man, bei einem fiesen Technikstreik, wenn nicht zerquetscht wird, dann doch verhungert.

Der Erwerb (einer Bluse) als mahnendes Sinnbild einer endlichen Katastrophe. Kaufen befriedet keineswegs, vielmehr nährt es einen neuen Mangel.

Hermann Harry Schmitz war zeitlebens ein Übertreiber. Dafür stehen seine Geschichten und Glossen sowie sein Auftreten als Alleinunterhalter. So war der krachende Abgang des Laut-Sprechers und ‚Dandy vom Rhein‘ im Jahr 1913 nur zwangsläufig: Mit dreiunddreißig Jahren wählte Schmitz für sich den Freitod. Damit sein Bekanntheitsgrad einmal an die gefühlte Temperatur seiner verstreuten Überzeichnungen heranreicht, trommeln eifrige Fans mit Ausstellungen und Lesungen heute noch in seiner Heimatstadt Düsseldorf

* Das Haus der Waren (und nicht, so viel Belehrung darf gestattet sein, das Kaufhaus) bildet beispielhaft als tempelartige Einrichtung der mannigfach zu beschwörenden Götter, den stillen Argwohn der eine Bluse kaufenden Tante gegenüber allen neuartigen Dingen ab. Dass Dorchen im Grunde nach einem passenden Stoff sucht, um sich die Bluse selbst zu nähen, zeichnet nur folgerichtig die konsumkritische wie radikalautonome Denk- und Lebensweise der älteren Dame ab.

Erwachte das Warenhaus erst Mitte des 19. Jahrhundert zur vollen Blüte, bot das Kaufhaus schon lange davor feinste Stoffe oder hochpolierte Töpfe und Tiegel dem solventen Konsumenten an.

März 2018

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DIE WUNDERBAREN JAHRE
von Reiner Kunze, 1976 

Als das Buch im Westen erschien, hatte dies für den noch im Osten lebenden Autor Konsequenzen, die man sich heute nur schwer oder mit Hinzuziehung von Zeugen vorstellen kann. Kunze flog aus dem Schriftstellerverband, ein Kinderbuch, das bereits gedruckt war, wurde kurzerhand gekippt und eingestampft

Die wunderbaren Jahre ist eine Sammlung von meist sehr kurzen Prosatexten, die das Leben jener Ostbürger beschreiben, die mit der damals herrschenden Arbeiter-und Bauern-Macht auf Kriegsfuß standen. Diese Einseitigkeit der Geschichten muss bei dem einen oder anderen Leser zwischen Hamburg und München von einst einen einseitigen Blick vermittelt haben. Bestimmt waren sie nach der Lektüre zutiefst davon überzeugt, dass sämtliche Brüder und Schwestern im Osten Dissidenten sind.

Mit meinen DDR-Erfahrungen lese ich 2018 das Buch, als würde ich einem Lichtbildervortrag beiwohnen: Meine ganze Aufmerksamkeit gilt der an die Wand geworfenen Schnappschüsse, die mir einen fremden Planeten zeigen. Anfangs fasziniert mich die Kargheit der Landschaft, in der die Farbe grau vorherrscht. Bis ich überrascht feststelle, dass mir die seltsamen Begriffe wie Gruppenratsvorsitzender, Wehrkundeunterricht oder Weltfestspiele, von denen Kunze erzählt, gut vertraut sind. Ich bin selbst die staubigen Wege über den fernen Stern gegangen, wie ich an den Kreuzungen stets eine Rast einlegte, um auf einen Polizisten oder auf einen anderen Entscheider zu warten. Deren Anweisung, wo es lang geht, nahm ich dankend an.

Dissidenten waren immer die anderen.

Das Buch erhielt ich kürzlich von einem Freund aus Göttingen, der es bei der Bestandsauflösung einer Bibliothek erwarb. Der Zettel mit den Rückgabestempeln klebt noch immer zwischen der letzten Seite und dem Pappeinband. Im Reglement einer Leihgabe unterschieden sich die beiden deutschen Staaten nicht: Auch die Bücher, die ich einer DDR-Bücher entlieh, enthielten jene kleine Bögen, die mit den gesammelten Stempeldrucken diskret und doch öffentlich Auskunft darüber gaben, auf welches Interesse das Buch stieß. Der erste Rückgabetermin war für den Juni 1977 terminiert, der letzte erfolgte im April 1988. Dazwischen zähle ich zweiunddreißig weitere Daten, die Leser in Niedersachsen schienen sich für das Leben im Osten wirklich interessiert zu haben. Staubfänger glänzen mit weniger Stempeleinträgen.

Februar 2018


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8 m²
von Candida Schlüter, 2017

Ende März 2017 lebten rund 64.000 Menschen in Deutschland hinter Gittern (Statistisches Bundesamt). Davon in Sachsen ungefähr 3.500. In den zehn Gefängnissen des Bundeslandes saßen zu dem genannten Zeitpunkt 703 Untersuchungshäftlinge ein.

Die Autorin von 8 m² führt den Leser in die Welt einer Haftanstalt. Hannah Corvin wird der Tötung zweier Menschen beschuldigt. Und weil für die Verdächtigte Fluchtgefahr besteht, kommt sie in Untersuchungshaft*: in eine Zelle** mit der Größe von acht Quadratmetern. Sich aus dem Weg zu gehen ist bei diesen Verhältnissen unmöglich, zumal wenn der Raum, der marginal größer als ein Bad in einem deutschen Mietshaus ist, mit einer Insassin geteilt werden muss

Während also Frau Dr. Corvin, die aus einem ehrbaren Elternhaus stammt und bis vor ihrer Ergreifung als Ärztin arbeitete, sich mit den rauen Gepflogenheiten hinter Gittern vertraut macht, wird draußen emsig und mit einigen Kapriolen für die Beteiligten am Fall gearbeitet. Diese beiden Ebenen fügt die Autorin ohne große Brüche zusammen, wobei der Fokus der meisten Lesen mit Sicherheit auf das Knastleben beruht. Denn Candida Schlüter kennt sich mit und in der Materie aus, sie hat in der JVA Düsseldorf gearbeitet.

Das Buch ist flüssig geschrieben und bedient sämtliche Erwartungen, die der Klappentext schürt. Der Umstand, unschuldig im Gefängnis zu landen, kann wohl als eine der Urängste angesehen werden. Dieser Furcht stellt sich der Mensch mit Wonne, wenn er dabei die Rolle des Voyeurs einnehmen kann. Unschuldsvermutung hin oder her, gar nicht erst in Verdacht zu geraten ist allemal vorteilhafter. Und die schwer zu beantwortende Frage, wie es wäre, selbst einmal hinter Gitter zu landen, kennt jeder. Allein aus diesem Grund folgt der geneigte Leser dem Geschehen gebannt, obwohl die Ärztin, die ihren Weißkittel gezwungenermaßen gegen die miefige Haftmontur tauscht, wahrlich keine Sympathiefee ist. Kein Fettnäpfchen lässt die Frau innerhalb der beschränkten Auslaufmöglichkeit aus, gekonnt, weil völlig ungeübt im Geben und Nehmen in einer Zelle, verscherzt sie es mit jedem. Und erst nach ihrer plötzlichen Entlassung kommt ihr in den Sinn, zu kämpfen.

* Hätte die Frau keine Verwandte in Südamerika, bestünde dann keine Fluchtgefahr? Müsste sie nicht auch ohne Fluchtgefahr bei dem massiven Tatverdacht in Untersuchungshaft?

** auch bekannt unter dem euphemistischen Begriff Haftraum

Februar 2018

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ZWISCHENBILANZ
von Juri Trifonow, dt. 1974

Ein Paar, das seit zwanzig Jahren verheiratet ist. Der Mann ist Nachdichter, die Frau geht nicht arbeiten. Ein Sohn, eine Haushälterin. Die gemeinsame Sprache ist auf das Äußerste minimiert. Man hat sich nicht mehr viel zu sagen. Und das wenige, was man sich noch zu sagen hat, kommt meist in einem vorwurfsvollen Ton rüber. Die Verliebtheit ist einer Gereiztheit gewichen. An einer Stelle heißt es: Es war nicht nur schwer, sich auszusprechen, sondern sogar richtig miteinander zu streiten. Da nützt auch nicht mehr das Bindeglied des Paares, der Sohn. Dieser ist (natürlich) nicht die Leuchte, die sich die Eltern erhofften. Damit der in ein Institut aufgenommen und gehalten wird, sind diverse Schiebungen notwendig. Korruption ist nur ein anderes Wort für Unterstützung. Denn unmoralische Handeln setzt voraus, dass man eine Moral hat.

Trifonow lässt die Geschichte aus der Sicht des Mannes erzählen, der die Ironie, die helfen könnte, Abstand zu gewinnen, längst verloren hat. Der rettet sich in Bluthochdruck und in Selbstmitleid. Seine Sarkasmen werden immer flacher, in seiner Verbitterung wird er zunehmend peinlich. Die Zwischenbilanz, die er zieht, bleibt überschaubar.

Die Novelle beleuchtet den allmählichen Zerfall einer kleinbürgerlichen Familie. Gut, nicht gerade der Themenknaller. In zig Regalen und Bibliotheken stehen Bücher, die mit eben jenem  Hintergrund aufwarten. Das Pikante ist, dass die von Trifonow beschriebene Ehekrise nicht im heutigen Köln oder in Paris um 1888 angesiedelt ist, sondern in einem Land mit dem Namen UdSSR von 1970. Der Sozialismus versprach nicht unbedingt das Blaue vom Himmel, den Neuen Menschen aber schon. Wenn man so will, war Trifonow Chronist einer Erscheinung, die es in einem sozialistischen Land gar nicht gab. In Scheinwelten leben immer die anderen.

Januar 2018

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QUERCHER UND DER BLUTFALL
von Martin Calsow, 2017

Mit dem Charme eines vertrockneten Kaktusses und der Scheu eines vorlauten Frührentners bedient der ehemalige LKA-Beamte und Mittvierziger Quercher sämtliche Register, um es allen recht zu machen und dabei seinen Kopf durchzusetzen.

Die vielen verschiedenen Handlungslinien, die das Buch gliedern, erfordern zunächst einige Konzentration. Doch die, dies kann an dieser Stelle verraten werden, wird belohnt. In Calsows Krimi, dem fünften Fall von Quercher, steht ein unaufgeklärter Fall im Mittelpunkt, der der RAF zugesprochen wird. Und als ginge es um eine neue Trendsportart wird eifrig gestorben. Und wer noch nicht gestorben ist, der übt sich grad im Sterben. Schön ist das selten, aber halt das Leben. Und wohl nicht nur der literarischen Richtung geschuldet, die vom Kitzel spannender Momente lebt.

Die beißende Ironie und die herrlichen Milieuschilderungen, mit denen das Buch aus dem bayrischen Land aufwartet, bescheren dem Leser ein hohes Maß an Unterhaltung. Und der latenten Gier nach dem nächsten Kapitel.

Dezember 2017
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SCHOCKTHERAPIE

Kolyma-Geschichten von Warlam Schalamow 1988, dt. 1990

Wer sich den Lebenslauf von W. Schalamow ansieht, wird sich fragen, wie dieser Mensch es schaffte, über das Erlebte zu schreiben. Und wie er, anders als A. Solschenizyn, nach seinen Haftjahren nicht mit der Sowjetunion zu brechen. Der Autor wurde 1907 geboren und bereits 1927 das erste Mal verhaftet und verurteilt. Mit der Verurteilung begann seine unheilvolle Odyssee durch die verschiedensten Lager des großen Landes. Denn kaum war er in Freiheit, schob man ihm auch schon ein neues Vergehen unter. Wie die Vorwürfe immer sonderbarer wurden, wuchsen die Haftstrafen auf verbrecherischer Weise. Erst 1951 kam Schalamow endgültig frei, das Lager verließ er zwei Jahre später. Er blieb, um als Arzthelfer zu arbeiten. Schließlich begann er, seine Kolyma-Geschichten zu notieren.

War Alexander Solschenizyn der Epiker unter den Autoren, die über das Lager berichteten, war Warlam Schalamow ein Meister der Kurzprosa. War Solschenizyn im Westen der Star, galt Schalamow als der große Unbekannte im eigenen Land, dessen Tochter sich von ihm, dem Volksfeind, losgesagt hatte. Seine Geschichten sind frei von Pathos und Weinerlichkeit, sie widmen sich den lichten Momenten in den Nächten, die sich über Jahre erstrecken. Es wird vom Glück, in der Tasche einen Brotkrümel zu finden, erzählt. Oder wie der Gefangene durch eine halsbrecherische Lüge zu ein paar Minuten mehr Schlaf gelangt. Die Geschichten benötigen keine aktionsgeladenen Handlungen: das Geschehen ist erdrückend genug. Die Protagonisten wissen zu gut, dass sie zum Ende des Tages mit der Hacke in der Hand umfallen und eins werden mit der Erde.

November 2017

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DIE SPUR IST SICHTBAR NOCH
Novelle von Daniil Granin, 1984, dt. 1986

Bei dem Ingenieur Dudarew meldet sich eine unbekannte Frau. Zunehmend gereizt versucht der Mann die Fremde, die, wie sie betont, extra aus Tiflis angereist ist, abzuschütteln. Es gelingt ihm nicht. Die Frau ist zu hartnäckig. Sie drängt dem Mann eine Sammlung von Briefen auf, damit er sich an einen ehemaligen Kameraden erinnert.

Anders als die Protagonisten von Patrick Modiano, die sich stets vorbehaltlos ihren Erinnerungen hingeben, verweigert Dudarew kategorisch, den ohnehin nicht sonderlich belastbaren Faden ins Gestern aufzunehmen. Dudarew kann und will sich nicht erinnern. Zunächst streitet er ab, den Leutnant je gekannt zu haben, dann sträubt er sich, dessen Briefe zu lesen. Nüchtern stellt Dudarew die ungelöste Gretchenfrage jeder Erinnerung: wozu soll das gut sein. Gerade aus dieser harschen Ablehnung des Gedenkens eines Kriegsveteranen der Roten Armee, ein Affront gegenüber dem ruhmreichen Sieg, entfaltet die Novelle ihre fesselnde Sogwirkung.

Die Spur ist sichtbar noch erzählt von Menschen, die sich ganz nahe standen und trotzdem nie zusammenfanden. Obwohl sich die Frau während des Krieges mit dem Leutnant, an den sich Dudarew erinnern soll, eifrig geschrieben hat, war ihr nach dem Krieg nicht vergönnt, ihren einstigen Brieffreund zu treffen.

Granin, der leider erst kurz vor seinem Tod durch Altkanzler Schmidt auch dem westlichen Publikum nahegebracht wurde, beschreibt die Geschichte mit leisen Tönen: die Dramatik der unerhörten Begebenheit spricht für sich und bedarf keinerlei künstliche Aufputschmittel.

November 2017

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DER SCHNEESTURM
von Vladimir Sorokin
2010, dt. 2012

Der Schneesturm ist polterndes Bauerntheater und Commedia dell’arte. Ein honigsüßes Märchen und eine rabenschwarze Groteske: sentimentalen Männergeschichten garniert mit derben Späßen.

Was passiert, wenn Laurel und Hardy auf Wodka sind, vielmehr wenn sich Vladimir und Estragon durchs russische Schneegestöber kämpfen, zeigt Sorokin in seinem Buch: das Warten auf Godot wird zum ‚Ich muss da unbedingt hin!‘

Ein Roadmovie entlang einer endlosen Pechsträhne, reich bebildert und ungemein fesselnd. Landarzt Doktor Garin in heilender Mission und Krächz, sein Komme-ich-heute-nicht-komme-ich-morgen-Fuhrmann mit dem weiten Herz am rechten Fleck und einem geflickten Vehikel mit winzigen Pferden, die zur Untätigkeit erstarren, wenn sie in der Ferne Wölfe wittern. Wer Pannen häuft, wie andere das Stroh, braucht sich der Pleiten nicht zu sorgen.

Im Rausch von Wind und Eis und manch anderer kirrer Droge begegnet der mit einer Mission ausgestattete und durch den Wald irrende Don Quichotte nebst seinem treuen Sancho Panza einem betrunkenen Zwerg, der, aus einem Fingerhut trinkend, im Dekolleté seiner Frau sitzt und einem eingeschneiten Riesen, in dessen Nasenloch sich die Kufe verfängt … Kaum hat der Leser eine Übertreibung kopfschüttelnd akzeptiert, schiebt Sorokin unverblümt und (schein-)bar jeder Logik den nächsten obskuren Kracher nach.

Tief verwurzelt in der Tradition Gogols Nase und Mantel und Schukschins Gespräche bei hellem Mondschein aus ächzend frostiger Sowjetzeit (lange nach dem Tauwetter) leuchtet Sorokins Schneesturm: ein Monolith aus dem Heute seltener wie seltsamer Größe.

November 2017

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DREI TAGE UND EIN LEBEN
Roman von Pierre Lemaitre, 2016, dt. 2017

Irgendwann macht jedes Kind die Entdeckung, dass es mit seinen Eltern nicht mehr alles Erlebte teilen kann/will. Mit der ersten heimlich gerauchten Zigarette, der ersten Freundin entfernt sich zum Beispiel der Knabe von Mutter und Vater. Für mich waren es die Unterschriften, die ich unter die Mathearbeiten oder den Einträgen in meinem Hausaufgabenheft setzte. Äußerst ungelenk kopierte ich die Kringel meiner Mutter, obschon mir klar war, dass die Ergebnisse meiner Bruchrechnungen erwartet wurden und das Hausaufgabenheft gern mal einer sporadischen Sichtung diente. Dass meine Mutter die Fälschungen entdeckte und außer sich vor Wut und Enttäuschung war, hielt mich nicht davon ab, bald darauf andere Geheimnisse vor ihr zu pflegen.

Der zwölfjährige Antonie in Drei Tage und ein Leben schleppt ein viel größeres Geheimnis mit sich. Er hat Rémi, seinen Freund, erschlagen. Pierre Lemaitre schildert die Verzweiflung von Antonie, der vom Strudel des kollektiven Aufschreis über das Verschwinden des kleinen Jungen mitgerissen wird. Seiner Schuld bewusst wägt er die ihm kargen Möglichkeiten des eigenen Verschwindens ab und erlebt dabei in seiner Vorstellung eindringlich alle Varianten, wie ihn die Polizei oder die Bewohner der schrecklichen Tat überführen. Antonie hat sich nicht nur von seiner Mutter entfernt, durch seine Tat hat er das Band zu seinen Mitschülern, zu Nachbarn und der Stadt gerissen.

Indem Lemaitre die Sicht des allwissenden Autors einnimmt, umgeht er geschickt Sentimentalitäten, mit denen die Geschichte bestückt wäre, hätte er sie in der Ich-Form erzählt. Dies erzeugt einen doppelten Abstand: Des Autors zu dem von ihm geschilderten Geschehen sowie seines Protagonisten zur Gesellschaft. So viel Distanz vermittelt auch eine gewisse Kühle, die die Handlung in der für sie angemessenen Schwebe hält.

Nur manchmal rutscht die Sprache ins m. E. betont Kindliche: Da sind Betten ‚patschnass‘ oder ein Platz ist ‚splitterfasernackt‘. Daraufhin von mir angeschrieben, reagierte der Übersetzer Tobias Scheffel überaus freundlich und umfassend – trotz bevorstehender Buchmesse in Frankfurt.

Oktober 2017

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IM SCHATTEN DER MANGROVEN
von James Lee Burke, 1993, dt. 1999

James Lee Burke schreibt am Tag tausend Wörter, dies sagte der Achtzigjährige kürzlich in einem Interview. Blockaden kennt er nicht. Und: Er genieße das Schreiben. Burkes rasante Produktivität erinnert an Georges Simenon, der ebenfalls scheinbar mühelos einen Roman nach dem anderen aus dem Ärmel schüttelte.

Im Schatten der Mangroven ist meine erste Begegnung mit Burke. Es werden mit Sicherheit weitere folgen, obschon die Atchafalaya-Sümpfe, der Ort der Handlung, weniger zu den Landschaften meines heimlichen Fernwehs zählen. Burke schreibt spannend und atmosphärisch dicht. Bei seiner wiederholten Schilderung der schwülen Temperaturen konnte ich förmlich den Schweiß der Protagonisten riechen und das hysterische Flügelschlagen der tausend Insekten hören.

Mangroven sind Bäume, die sich besonders durch ihre Anpassungsfähigkeit auszeichnen. Detective Dave Robicheaux ist, was mögliche Ein- oder gar Unterordnung angeht, anders. Im Schatten der Mangroven lässt er sich von zwei Fällen treiben. Ein Skelett und eine übel zugerichtete Frauenleiche. Beharrlich, man kann auch sagen äußerst stur verfolgt der Detective die Spuren, die er freilegt. Und wie für jeden eigenwilligen Ermittler, der munter darauf pfeift, was andere von ihm erwarten, stößt auch Robicheaux rasch an die Grenzen der offiziellen Wege. Er wird suspendiert, im Handstreich spricht man ihm seine Kompetenz ab. Dabei holen R. dunkle Tagträume heim, die zu Lasten der Hitze und dem Stress oder seiner angespannten Verfassung gehen könnten. Doch bald werden die Gespräche, die er in seinen Visionen mit Personen aus dem Gestern führt, zum wesentlichen Teil der unbeirrten Ermittlungsarbeit.

Ein Nachschub von Burke liegt bereits auf dem Tisch. Sturm über New Orleans ist die bittere Abrechnung mit dem Fiasko nach dem Hurrikan Katrina von 2005. Vergleiche zu den momentanen Naturkatastrophen, die den Süden der USA heimsuchen, drängen sich zwangsläufig auf, obschon den Bewohnern der gebeutelten Region die Zeit danach noch bevorsteht.

September 2017

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NEW YORK
Geschichten, 2001
WENN WIR BLEIBEN KÖNNTEN
Gedichte, 2014
von Lily Brett

Brett wurde in Deutschland geboren, ging mit den Eltern nach Australien, heuerte neunzehnjährig bei einem Rockmagazin an und lebt jetzt als Autorin in New York.

Ist Lily Brett in ihren Miniaturen, welche sie über jene Metropole schreibt, die niemals schläft, scharfzüngig und selbstironisch bis zur Überzeichnung, findet sie mit ihren Gedichten einen nachdenklichen, mitunter ernsten Ton. Die Schlaglichter von New York vermitteln den satten Sound der Haupt- wie der Seitenstraßen, atmosphärisch dicht und ungemein unterhaltsam. Dagegen blitzen selten die schrillen Verrücktheiten auf, die gern von denen kolportiert werden, die noch nie in der Stadt waren. Sämtliche Kurzgeschichten machen Lust aufs Reisen, Ratgeber fürs Reisen sind sie nicht. Brett führt ihre Leser auch in gewöhnliche Gegenden, solche, die in jeder beliebigen großen Stadt zu finden sind.

In ihren Stories wie in ihren Gedichten, stets schimmert Bretts Lebenslinie durch. Ihre Eltern überlebten Auschwitz – ohne zu wissen, ob der andere noch lebt. Erst nach der Befreiung des Vernichtungslagers trafen sich die Eltern wieder. 1946 wurde Brett in einem Lager für Displaced Persons in Feldafing geboren. Zwei Jahre später verlässt die Familie Deutschland.

06.08.2017

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JESUS‘ SOHN
Geschichten von Denis Johnson, 1995, dt. 2001

Manchmal ist es erst die Todesmeldung, dass man auf einen ganz großen seiner Zunft stößt. Es ist wie im richtigen Leben: Manche Menschen lernt man erst zu schätzen, wenn sie nicht mehr da sind.

Die Nachrufe auf Denis Johnson klangen vielversprechend. Jede Regionalzeitung brachte einen Mehrzeiler. Und für die größeren Blätter schälten sich ganze Heerscharen von Kritikern und Kennern aus ihren Ohrensesseln und streuten eifrig Blumen in Form von Lobeshymnen.

Die Geschichten in dem Band Jesus‘ Sohn bestätigen alle Erwartungen. Elf düstere Berichte vom tiefen Seitenaus des Lebens. Irrwitzige Begebenheiten, die man sich nicht ausdenken kann, so abgefahren und wirr wie die sind. Wer Daniel Woodrell oder Bret Easton Ellis mag, der muss Johnson lieben. Er schreibt über Leute, die aufgehört haben, sich ein Stück vom Kuchen zu erhoffen. Was sollen sie mit Kuchen, Diabetes haben sie bereits. Und noch viel mehr. In ihrem Rucksack stapeln sich stinkige Haftjahre und uneinnehmbare Schuldenberge, bek(n)ackte Entzüge und himmelfahrtskommandomäßige Rückfälle. Dennoch ziehen die Gestrauchelten stur und unverbesserlich ihr Ding durch. Die vielbeschworene Etikette überlassen sie gern anderen. Lieber hocken sie mit einem nassen Schlafsack am Straßenrand, als in einer zugigen Bruchbude, für die ein Hai auch noch Miete schluckt.

11.07.2017

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FÜR ALLE REICHT ES NICHT
Texte zum Kapitalismus
Heiner Müller, 2017

Zugegeben, ich stelle mir selten die Frage, was Jesus dazu sagen würde. Martin Niemöller möge mir meine Unlust verzeihen. Viel öfter frage ich mich, was Heiner Müller zum Thema Trump oder der Leitkultur sagen würde. Manchmal glaube ich, den Zigarre rauchenden Mann in einer der telegenen Runden zu entdecken. Zunächst nippt Müller an seinem Glas, um schließlich mit Hilfe einer Anekdote aus dem Bauernkrieg oder einem Zitat von Platon oder Ernst Jünger die momentane Weltlage zu erklären. Dann aber wache ich auf, rapple mich aus meinem Sessel und stelle den Fernseher ab. Maischberger und Plaßberg müssen ohne Müller auskommen, denn der ist seit über zwanzig Jahren leider verhindert.

Anna Müller, die Tochter des Dramatikers, war drei Jahre als ihr Vater starb. In einem Gespräch zitierte sie unlängst ihren Freund. „Was ich mir wünschen würde“, sagte der junge Mann, „dass, wenn wir beide abends am Tisch sitzen und zusammen über Sachen diskutieren, er auch was dazu sagt.“

Das Buch Für alle reicht es nicht wartet mit einer Fülle von Texten auf, die die Herausgeber in fünf Generalthemen gegliedert haben. Gedichte, Auszüge aus Theaterstücken und immer wieder Gespräche, die Müller mit bedeutenden Literaturkritikern oder einem Stadtmagazin führte.

Für alle Müller-Kenner ist das Buch ein gutgemeinter Versuch, den Mann aus der Vergessenheit zu reißen, in die er in den letzten Jahren gerutscht ist. Für Leser, die Heiner Müller bisher als einen Libero der dritten Fußballliga hielten, mag das Kompendium eine Zumutung sein. Müller schwimmt gegen alle erdenklichen Ströme und provoziert mit seinen kühnen Behauptungen. Die Assoziationen, die Müller knüpfte, muten selbst auf den zweiten Blick lächerlich und ziemlich verschroben an. So kommt es auch nicht von ungefähr, dass die Herausgeber den Band mit einem Spruch von Hitler betitelten: Für alle reicht es nicht.

Vielleicht ist es gut so, dass das deutsche Fernsehen von Müller verschont bleibt. Es hat einen wie ihn nicht verdient.

25.05.2017

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DER FALL DELTSCHEV
von Eric Ambler, 1951, dt. 1975

Schauprozesse unterscheiden sich von simplen Theaterstücken gewöhnlich darin, nach dem Urteil wird wirklich gestorben. Der Slogan ‚Im Namen des Volkes‘ mag manchmal ziemlich hohl klingen. In Gerichtssälen, die einzig dem Machterhalt dienen, sind die Worte eine Farce. Jene Prozesse, die eine Zeitlang auch in Osteuropa üblich waren, sorgen heute noch durch ihre Willkür und der offen gezeigten Demütigung statt der Unschuldsvermutung für Fassungslosigkeit, wurden sie doch unter einer Ägide geführt, die von sich behauptete, der Inbegriff einer gerechteren, ja menschlicheren Gesellschaft zu sein.

Eric Ambler, 1909 bis 1998, hatte beim Schreiben stets die weite Welt im Blick. Durch eine Vielzahl von Ländern zieht sich seine kreative Spur, fündig wurde er überall für seine Geschichten. Der Ost-West-Konflikt war ihm sicher zu eindimensional. Ihm dienten Themen wie Geldwäsche, der neue Kolonialismus oder der Nahostkonflikt. Im Roman Der Fall Deltschev ist die Handlung in einen fiktiven Staat Osteuropas angesiedelt. Foster, ein amerikanischer Stückeschreiber, der mit seiner Neugier genug Naivität im Gepäck hat, soll den pompös aufgezogenen Prozess um den Politiker Jordan Deltschev verfolgen. Dass der Dramatiker rasch aus seiner anfänglichen Beobachter- in eine handelnde Position gerät, lässt sich denken, wobei Ambler geschickt die Zufälle aufzeigt, die einen Menschen zu seinem eher ungewollten Positionswechsel bringen (können).

Wie in jedem guten Krimi wächst von Kapitel zu Kapitel die Schar der Verdächtigen. In Der Fall Deltschev traut der Leser bald keinem mehr über den Weg, zu korrupt, zu finster sind die Machenschaften (schließlich lebt die Gesellschaft Bestechlichkeit und Pessimismus vor). Jeder, der mit Foster zu tun hat, scheint reich an Motiven ausgestattet zu sein. Und wenn einer kein Motiv hat, so ist er allemal durch seine Unschuld äußerst zwielichtig und gefährlich.

Ein besonderer Reiz des Buches ist, dass Foster nie mehr als der Leser weiß. Ungläubig und überrascht taumelt er von einer Situation zur nächsten, bis er entnervt hinschmeißen will. Doch da nimmt die Handlung Fahrt auf, wie sich die Schlinge um Foster fester zieht.

30.04.2017

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DAS BOHREN HARTER BRETTER
133 politische Geschichten, 2012

30. APRIL 1945, 2014
Der Tag, an dem sich Hitler erschoss und die Westbindung der Deutschen begann, 2014

DIE ENTSTEHUNG DES SCHÖNHEITSSINNS AUS DEM EIS
Gespräche über Geschichten, 2005
Drei Bücher von Alexander Kluge

Kluges subtile Mischung von Fiktion und Historie ist stets spannend und geistreich. Oft reicht dem Autor eine Kleinigkeit, eine beiläufige Bemerkung eines Diplomaten oder Wissenschaftlers zum Beispiel, um ein poröses Gesellschaftsmodell heraufzubeschwören. Max Weber und Lenin treten auf. An anderer Stelle kommt ein sozialdemokratischer Minister aus NRW und der städtische Beamte, der für die Blumenrabatte der Nürnberger Parteitage zuständig war, zu Wort. Oder Kluge wählt ein Datum, um mit dem Brennglas die unterschiedlichsten Läufe und Stillstände eines Tages zu sezieren.

So wie es Stadtschreiber gibt, gibt es Weltschreiber. Alexander Kluge ist einer.

Dennoch vermag ich Bücher von Kluge (wie von F. Dürrenmatt) nicht dauerhaft zu lesen. Die permanente Intellektualität strengt an und fordert heraus. Kaum eine Geschichte, so überschaubar sie sein mag, kommt ohne einen Verweis auf Platon oder auf Freud (und was dieser 1917 auf einem Kongress in Budapest zu sagen hatte) aus.

Mit jedem Satz lässt mich der Autor freundlich winkend um Lichtjahre zurück. Kluges Geistesgröße bewirkt, dass ich als Leser vor lauter Aufschauen schrumpfe. Mit diesem Kleinsein konfrontiert, erlebt meine ohnehin bestens ausgeprägte Unsicherheit einen sprunghaften Wachstumsschub.

07.04.2017

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DAS SCHLANGENMAUL

von Jörg Fauser, 1977, 1985

Jörg Fauser war der Mann fürs literaisch Grobkörnige. Die Schelte, die er beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb einstecken musste, warf eher ein schales Licht auf die Kritiker, den Bewahrern des Schöngeistigen. Bestens kannte sich Fauser in den verräucherten Hinterzimmern und verwinkelten Ausfallstraßen aus. Dort, in der gesellschaftlichen Peripherie, war er heimisch. Und was er in der meist wenig illustren Halbwelt fand, hackte er, berserkergleich, in die Maschine. Das Schlangenmaul lebt von scharfen Schnitten, rotzfrechen Dialogen und einem ironischen Grundton, der, wenn es sein muss, keine Berührungsangst mit der süffisanten zynischen Tirade kennt. Jahre später war es Jakob Arjouni, der mit seinen bitterbösen wie frech frotzelnden Kayankaya-Krimis Fausers Geist weitertrug.

Heinz Harder, ein Schreiberling für diverse Gazetten, sattelt um und verteilt locker seine Visitenkarten mit der Aufschrift: ‚Bergungsexperte für außergewöhnliche Fälle‘. In der Manier klassischer Detektivgeschichten nimmt der wodkakippende Möchtegernausputzer den Kampf mit den Möchtegernetablierten auf – und landet Im Schlangenmaul.

Obschon das Buch Längen hat, stören die nicht. Selbst wenn es manchmal zäh wird, Fauser wusste Menschen und Situationen derart markant zu zeichnen, dass man glaubte, den Typen oder den Umstand zu kennen. Langweilig ist Fauser nie.

Müßig die Frage, was der Mann noch alles geschrieben und verlegt hätte, wäre er gleich nach seinem 43. Geburtstag zu seiner Frau gefahren, statt diesem blöden Stelldichein mit einem Auto nachzugehen. (Fauser brachte zum Beispiel den großen Unbekannten des amerikanischen Politthriller Ross Thomas heraus. Wem hätte Fauser noch den Weg in die [deutsche] Öffentlichkeit geebnet?)

Heute wäre Fauser über siebzig Jahre. Noch immer würde er sich in den schmutzigen Gassen herumtreiben, um dem Mond eine Nase zu drehen und der Morgensonne zuzurufen: „He olle Blendmarie, sei nicht sauer, aber ich bin schon da!“
  

14.03.2017

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AN JEDEM NEUEN MORGEN
von Roger Rosenblatt, 2010, dt. 2011

Rosenblatt schreibt über den frühen Verlust seiner achtunddreißigjährigen Tochter. Und da seine Tochter Mutter von drei Kindern und Ehefrau eines berufstätigen Mannes war, schreibt er über die Herausforderung, einen Familienbetrieb am Laufen zu halten. Die Schlaglichter, die Rosenblatt mittels kleiner Geschichten aufwirft, zeigen die Familienmitglieder, die ihre ganz eigene Trauer leben und erst allmählich aus ihr heraus finden.


Die Gefahr, dass die persönliche Nähe die Objektivität minimiert, erliegt Rosenblatt nicht. Im Gegenteil: Er schreibt gefühlvoll, ohne den befürchteten Ton von Sentimentalität anzuschlagen. Kitschalarm muss an keiner Stelle ausgerufen werden. Das Taschentuch kann bleiben wo es ist. Wenn jedoch Opa Rosenblatt einem seiner Enkel aus einem Buch über Thomas Alva Edison vorliest und an jene Stelle gelangt, an der vom Tod der siebenunddreißigjährigen Frau des Wissenschaftlers und Mutter von drei kleinen Kindern erzählt, bedarf es schon ein Herz aus Stein, um der Rührung nicht zu erliegen.

Der feine Sinn für die Alltagkomik, den Rosenblatt leise aufspürt, lässt die isolierende Mauer der Tragik mit jeder Episode bröckeln.

07.03.2017

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DOPPELTES SPIEL und VERFOLGT IN PARADISE
von Robert B. Parker, 2010, dt. 2016; 2009, dt. 2016

Zwei Romane um Jesse Stone, der liebevoll Chief Stone genannt wird und die Kleinstadt Paradise vor den bösen Buben zu schützen versucht. Dies gelingt nicht immer, was den Cop mit dem Hang zum gekühlten Gerstenmaissaft nur menschlicher macht.

Die Bücher beweisen, dass Verfilmungen ihre Vorlagen manchmal um Längen schlagen können. Was mit Tom Selleck und seinen neun abendfüllenden Jesse-Stone-Filmen subtil und leise rüberkommt, liest sich in Romanform äußert banal und schmalbrüstig. Möglicherweise sind die Bücher auf den schnellen Schnitt übersetzt.

Auch dass die Filme von Autoren entwickelt wurden, die Parkers Romane zur Grundlage ihrer Arbeit am bewegten Bild nahmen, tröstet ebenso wenig. Tiefe oder gar Ab-Gründe bleiben zwischen den Buchdeckeln ausgespart. Dann doch lieber die Glotze!


26.02.2017

  

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IM WEISSEN KREIS
von Oliver Bottini, 2015

Louise Boni, Hauptkommissarin der schönen Stadt Freiburg, kämpft mit ihren Toten, denen, die ihr Job mit sich bringen und den privaten. Eigentlicher Ausgangspunkt der Geschichte aber ist, dass ein Mann zwei Pistolen erworben hat. In Ermangelung von größeren Fällen mutiert diese Information zum Aufreger. Und so kann ein unheilvolles Gespinst aus unbearbeiteter deutscher Kolonialgeschichte, internen Intrigen des Polizeiapparates und einem braunen Weißen Kreis geflochten werden.

Bottini schreibt flüssig, seine Szenen eignen sich locker als Drehbuchvorlagen. Doch gegen jeden Trend einschlägiger Serien, die allabendlich zum kollektiven Stressabbau verhelfen, hält sich Im Weißen Kreis der ironische Unterton in überschaubaren Grenzen. Ebenso beschränkt bleibt die Ausleuchtung des Personals, welches der Autor in einer Unmenge losschickt, um das erwähnte Geflecht aufzudröseln. Blass und schemenhaft agieren sämtliche Personen. Selbst die Gedanken und Handlungen der Kommissarin sind eingehüllt vom dichten Nebel des Ungefähren.

19.02.2017

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JAKOB SCHLÄFT
Eigentlich ein Roman

von Klaus Merz, 1997

Frère Jacques ist ein Kinderlied, was hierzulande gern als ‚Bruder Jakob‘ geträllert wird.

So überschaubar wie das Lied ist auch das Buch von Klaus Merz. Der Schweizer Autor greift darin das Motiv des Kinderliedes auf, um in seiner unnachahmlichen poetischen wie leisen Art Bilder der eigenen Kindheit wachzurufen. Dabei gelingen ihm eindrucksvolle Bilder.

Der Leser sollte sich Zeit nehmen, obschon die wenigen Seiten von Jakob schläft an einem Abend rasch zu meistern sind. Merz gehört zu jener Gilde von Autoren, denen mensch mit einem entschleunigten Lesen besser beikommt.

05.02.2017

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RÜCKKEHR NACH REIMS
von Didier Eribon, 2009, dt. 2016

Es ist legitim, wenn Geisteswissenschaftler mit ihren Analysen mehr Fragen stellen als Antworten zu geben. Eribon seziert mit äußerst klugen Schlussfolgerungen die heutige Gesellschaft und liefert gleich eine Handvoll Gründe, weshalb sie ist, wie es ist. Dass das sehr persönliche Buch des französischen Soziologen seine Erstauflage bereits 2009 erfahren hat mag dabei als ein weiterer Pluspunkt gelten.

Spätestens nach der Präsidentenwahl in den USA nimmt das hilflose Lösen der Rätselformel Wie-konnte-es-dazu-kommen? kein Ende. Allein der Griff an die eigene Nase oder ein Blick auf Europa würde genügen, um ähnliche Tendenzen auszumachen: In einer Zeit, in der der Kapitalismus immer dreister und ungehemmter auftritt, sendet die Linke wenig belastbare Luftblasen aus ihrer komfortablen Tauchstation. Stattdessen trumpfen allerorts schmallippige Dumpfbacken mit ihren 0815-Erklärungen auf, verängstige Pöbelianer sowie abendländische Bewahrer propagieren das Ende der Welt und großspurige Kleingeister finden Gehör und obendrein frenetischen Beifall. In einer Zeit, in der die üble Nachrede längst zum allgemein geduldeten Spruch bei Tisch avanciert ist, bleibt der Diskurs auf der Strecke, mehr noch, der Streit um das bessere Argument gehört zu dem überwindenden Geschwafel der Etablierten.


Eribon macht an seiner Person den zwar offenkundigen, dennoch verschwiegenen Wandel einer ganzen gesellschaftlichen Haltung fest: wie vermeintlich linke Kämpfer das eigene Klientel zunächst verprellten, um es alsbald, in Namen der Wahrheit und/oder einer Ideologie, zu negieren. „Theorien neigen dazu“, schrieb der kürzlich verstorbene Zygmunt Baumann, „sich als wohlgeformte, glänzende Behälter zur Aufnahme der schlammigen, trüben Erfahrungsinhalte zu präsentieren.“ Nicht erst seit heute gibt es den Hochmut der Edellinken gegenüber der proletarischen, der geschundenen Linken, doch hatte man ihn nicht mehr auf dem Schirm. Auch deshalb wird die Verwunderung so wort- und tränenreich beklagt, dass sich einstige linke Wähler neue Stätten suchen und finden.  

09.01.2017

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DIE GESCHICHTE MEINES TODES
von Harold Brodkey, 1996

Von der ersten Seite an ist der Leser über den Ausgang des Buches eingeweiht. Der Titel zeigt unmissverständlich, wohin die Reise geht. Kein Trost, nirgends. Brodkeys Weg zu folgen, mindert dies nicht. Im Gegenteil, zu entdecken bleibt viel.

Zunächst ist es eine Lungenentzündung, die den amerikanischen Autor lange an das Bett fesselt, allein die darauffolgende Diagnose zerstört jegliche Hoffnung. Brodkey schildert den physischen wie psychischen Spießroutenlauf. Als Taktgeber des permanenten Auf und Ab des eigenen Befindens dienen die Berge von Tabletten und Pillen, die Brodkey schlucken muss.


Es ist das Thema, das fesselt, doch bald wird deutlich, dass Brodkey vor allem mit seiner Eleganz und Genauigkeit, seiner Tiefe und Nüchternheit überzeugt. Der Mann konnte einfach gut schreiben. Seine Sätze wirken wie Fausthiebe gegen das Gezeter, mit denen ein Tagwerk gewöhnlich begründet wird.

Nun gehört man ganz und gar der Natur, der Zeit: die Identität war ein Spiel
.
Oder:
Es ist der Tod, der bis zum Mittelpunkt der Erde, der großen Grabkirche, welche die Erde ist, hinabreicht und andererseits hinaus bis zu den gekrümmten Rändern des Universums, wie man es dem Licht nachsagt.
15.12.2016

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CIORAN

Beim Hören einer Sendung über den Philosophen E. M. Cioran erinnerte ich mich an eine Zeit, in der ich mich auf einer regelrechten Cioran-Welle befand. Die Lebensverzweiflung und der Existenzekel des stets finster dreinschauenden Wahlfranzosen hatten es mir angetan. Nirgends Erklärungsmuster für ein seichtes Überleben oder halbgare Küchenweisheiten, die das Pfeifen im Keller als taktlose Erlösersinfonie verkauften. Bei Cioran, so fand ich, war der Schmerz an der Welt echt. Zeitlebens sezierte der Mann in seiner ungeheizten Dachkammer die Sinnlosigkeit des Lebens, als hätte er in dieser wenig aufwärmenden Tätigkeit (s)einen Halt gefunden.

Somit war Ciorans Liebäugeln mit dem Freitod von platonischer Natur, denn ein Hand an sich legen (Jean Amery) wäre für ihn einer blanken Anerkennung jener Rechnung gleichgekommen, die er gar nicht eingefordert hatte.


Heute noch nehme ich an manchen Tagen den einen oder anderen schmalen Band, um in Gevierteilt oder Vom Nachteil, geboren zu sein stöbernd der vielleicht radikalsten Flucht von der aufgeblasenen Relevanz des Hier und Jetzt beizuwohnen. Doch ziemlich schnell bereiten mir die stilistisch exzellenten Lebensverwünschungen Überdruss. Es ist wie beim Trinken von Schwarztee. Maximal drei Gläser schaffe ich über den Tag verteilt, ein Glas mehr und das angenehme Gefühl kippt in Kopfweh und Schwindel.
07.12.2016

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DER HASS
von Heinrich Mann, 1933, 1983

Das Buch Der Hass ist eine Abrechnung mit der Zukunft. Mit dem feinen Gespür für das Kommende zeigt Heinrich Mann jene Wege, die dorthin führen. Aufsätze zur Deutschen Zeitgeschichte, deren Titel schon klare Statements sind: ‚Im Reich der Verkrachten‘ oder ‚Die enttäuschten Verräter‘.

Beim Lesen im ausgehenden Jahr 2016 stockt einem der Atem, wie viel Heute in den Buch Der Hass von 1933 steckt.

(Nachdem diese Bemerkung fertig war, fand ich einen Artikel von Sascha Hawemann. Mit einer Spur Pathos kürte der Regisseur das 2016 zum Jahr des Hasses. Dabei belässt er es nicht beim bloßen Aufzählen: „Der heiße Hass auf Dresdner Straßen, der blutige Hass von Paris und Brüssel“. Er sagt auch: „Glücklicherweise hat sich mein Hass aufgebraucht und ist müde geworden.“)

03.12.2016

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CAJUN BLUES
von Daniel Woodrell, 1984, dt. 1994

Mit diesem Band, dem ersten der überschaubaren Rene-Shade-Reihe, stellte sich Woodrell der Öffentlichkeit vor. Und bereits mit Cajun Blues machte der Autor klar, wohin die Reise seiner folgenden Bücher gehen wird. Wenn in seinen Romanen permanent die Sonne scheint, heißt dies nicht zwangsläufig, dass es den Leuten gut geht bzw. dass sie sich unter ihr wohlfühlen. Im Gegenteil, nach wenigen Seiten weiß der Leser, gegen die Eiszeit hat die Sonne allein wenig zu bieten.

Rene Shade ist ein Detective der alten Schule. Wortkarg, flott im Denken und schlagfertig (was die Fäuste angeht). In Cajun Blues ermittelt Shade in einem kleinstädtischen Korruptionsgerangel und trifft dabei, welch Überraschung, auf mittelgroße und kleine Gangster. Und auch auf den Außenseiter Jewel Cobb, der gern ein Killer sein möchte und doch nur ein verführbarer Trottel ist.

Was sich in der Kurzzusammenfassung wie ein Dutzendkrimi liest, stecken in Cajun Blues schon reichlich viele Figuren der späteren und mit Sicherheit stärkeren Werke von Woodrell ihr Terrain ab: die ewig Gestrauchelten, die sich treiben lassen und getrieben werden; die mittelgroßen Bestimmer, die natürlich Teil einer schmutzigen, weil blutigen Kette sind und die Frauen, die noch am Abend ihren Morgenmantel tragen und in deren Kaffee mehr Alkohol als Koffein treibt.

Woodrell beschreibt seine Protagonisten stets auf Augenhöhe, obschon sie selten die klassischen
Sympathieträger sind. Mit dieser klaren Haltung schafft Woodrell das fortwährende Kunststück, dass sich der Leser all den Betrügern und Betrogenen, den vermeintlichen Gewinnern wie den bekifften Dauernieten gegenüber ebenso nie zu erheben versucht. Viel zu gut kennt der Leser den einen Pech- oder den anderen Raubvogel.

14.10.2016

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MEINE PREISE
von Thomas Bernhard, 2009

Kurz vor seinem Tod stellte Thomas Bernhard eine Sammlung von Texten unter dem selbstbewussten Titel Meine Preise zusammen. Zunächst erläutert Bernhard auf seiner unnachahmlich subtil-sarkastischen Art, wie er zu den einzelnen Preisen gekommen ist und wie er diese aufgenommen hat. (Oder muss man nicht besser sagen, wie er sich gegen die Entgegennahme gesträubt hat?)

Der Leser sollte mit Bernhards Romanen und Theaterstücken einigermaßen vertraut sein, um den gallischen Humor zu verstehen, der Grundlage jeder Aussage ist. Auch um all die quirligen Schmähungen und Beleidigungskaskaden richtig zu deuten, ist eine Berührung mit der einen oder anderen Lektüre von Bernhard ratsam. Sonst gewinnt man wohlmöglich den Eindruck, bei dem 1989 verstorbenen Österreicher handelte es sich um einen wortreichen Grantler, der aus Liebe zum Mürrischsein nörgelte, was so abwegig nicht ist, den Blick jedoch massiv einengen würde. Bernhard war mehr, viel mehr.
Zum Abschluss wartet das Buch mit den jeweiligen Ansprachen auf, die selten Dankesreden im üblichen Sinne waren. (Das stumme Leid der beiwohnenden Preisverleiher sollte an anderer Stelle besprochen werden. Meine Preise beweist, dass es keine Pflicht gibt, sich einer Auszeichnung wegen voll Ehrfurcht im Dreck zu wälzen.)

Bernhard ging keiner Konfrontation aus dem Weg. Eine Friedenspfeife mag für ihn eine beschauliche Requisite aus dem Theaterfundus gewesen sein, ein Gegenstand für eine lockere Runde war sie für ihn eher nicht. Dennoch wäre es verfehlt ihm das obsessive Daueranecken als eine gewohnheitsmäßige Profilierungsmasche zuschreiben zu wollen. Bernhards Blick auf die Welt und auf seine Mitmenschen war von einer Ehrlichkeit geprägt, die sich um keine Hintertür scherte, wohl aber um Genauigkeit, also um Übertreibung.

(Ultimative Anlesetipps in Meine Preise: die Rede zur Verleihung des Büchner-Preises sowie die Vorbemerkung zu dieser Rede.)

10.10.2016
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JULIA UND DER BALKON, 1997, dt. 1999
DIE REISE DES DAVID MELBA
, 1999, dt. 2001
von Maarten Asscher

Die beiden Bücher des Verlegers, Übersetzers und Ministeriumsmitarbeiter Asscher gehen auf Ausnahmesituationen ein. Ein Freitod, der vielleicht doch nicht selbstbestimmt war. Und eine Verhaftung eines Menschen, der nicht der ist, für den man ihn (fest-)hält.

In Julia und der Balkon schildern Zeugen und Nur-am-Rande-Beteiligte in der Manier des Films 8 Blickwinkel den Sturz von Julia Hanson von der Plattform des Empire State Building. Alle tragen mit ihren Auskünften ein Steinchen zum Mosaik des Falls bei, die Summe der verschiedenen Eindrücke und Versionen ergeben am Ende einen blassen Deutungsschimmer.

In Die Reise des David Melba erlebt der Leser eine Verwechslung. Melba, der sich für eine Woche aus seinem (Arbeits-)Leben ausklinken will und auf seinen Flug wartet, findet sich gefesselt auf der Toilette des Airports wieder. Zu seinem Unglück trägt Melba die Sachen seines Peinigers.

Die Bücher lesen sich schnell. An manchen Stellen wünscht man sich etwas mehr Futter, etwas mehr Tiefe.

01.10.2016


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EISIGES HERZ
von Giles Blunt, 2006, dt. 2010

Menschen, die trauern, tragen Magneten in der Tasche. Menschen, die eh schon in trauriger Stimmung sind, werden dadurch angesogen. Und Menschen, die heiter ihre Kreise ziehen, halten sich wie automatisch fern. Trauer besitzt ein Kraftfeld, die einen werden von ihm angezogen, die anderen stößt es ab. Bis das Feld der dunklen Kraft schwächer wird und sich die Lust der wechselseitigen Anziehung und Abstoßung in einen unaufgeregten, weil normalen Zustand legt.

Blunts Buch Eisiges Herz erzählt von der Trauer, die Detectiv Cardinal nach dem Tod seiner Frau durchlebt. Selbst wenn Blunt keine neuen Noten der allseits bekannten Abschiedssinfonie hinzufügt, allein wie er seinen Helden durch den Nebel seiner Tage der Fehler und Falscheinschätzungen stolpern lässt ist lesenswert. Eisiges Herz kommt ohne die üblichen halsbrecherischen Aktionen und aufwühlenden Blutorgien aus, und obschon bald klar ist, wer hinter den vielen manipulierten Suiziden steckt, reicht der Spannungsbogen bis zum Schluss. Möglicherweise eben aus diesem Grund: Denn wenn einmal das Geheimnis um das Wer gelüftet ist, bleibt die Frage: Wie wird der Täter überführt?
 
Eisiges Herz ist genau die richtige Lektüre, um das Überfallkammando mit dem Decknamen Herbst mit seinem gemeinen Dimmen des Sonnenlichts gelassen die Schulter zu zeigen.



30.09.2016

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MARS
von Fritz Zorn, 1994, 1977

Das Buch ist eine Abrechnung. Schonungslos seziert Zorn seine eigene Kindheit und Jugend. Die Eltern schirmten ihren Sohn vor allen erdenklichen Fragen und Problemen ab. Behütet geht anders. Der Schweizer Autor wuchs unter einer schalldichten Glocke der Missachtung jener Dinge auf, die ein Leben ausmachen. Die Erziehung, die er genoss, war ein konsequentes Ausblenden aller Zwischentöne, ein Einlullen ins permanente Ja-Sagen. „Ich bin jung und reich und gebildet“, stellt Zorn ohne Bitternis fest. „Und ich bin unglücklich, neurotisch und allein.“


In der WELT erschien vor ein paar Tagen ein Artikel über den ‚autobiografischen Pakt‘. R. Kämmerlings greift Lejeunes Spruch auf, um sich mit den Büchern von Knausgård, Melle und Stuckard-Barre auseinanderzusetzen. In der heutigen Literatur habe das Selbsterlebte die Fiktion abgelöst, meint Kämmerlings. Und weiter: ‚Von Schreibtisch-Einzelkämpfern mühsam recherchierte Romane haben es zunehmend schwer …‘

Die klugen und leisen Töne, die Adolf Muschg dem Buch Mars vorausschickt, wecken ein Interesse, welches auf den folgenden Seiten nicht enttäuscht wird.
Fritz Zorn, der, nicht weniger richtungsweisend eigentlich Fritz Angst hieß, erlebte die Veröffentlichung von Mars nicht mehr. Eigen und kühl macht der Autor seine zunächst diagnostizierte und schließlich fortschreitende Erkrankung selbst zum Thema im Buch. Mit zweiunddreißig Jahren verstarb Zorn.

15.09.2016

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ZEITEN DER STILLE
von Thomas Merton, 1992

Früh verliert Thomas Merton seine Eltern. Nach Jahren des Wanderns und Suchens tritt er in ein Kloster. Doch bald holt ihn die Welt mit ihrer Unruhe und Geschäftigkeit ein, in der Enge der Zellen findet Merton nur selten Zeit zur Versenkung. Er wird krank. Der Abt lässt ihn gewähren, eine Hütte nahe dem Kloster zu beziehen. Als Einsiedler findet er wieder zum Gebet und zu der von ihm so geliebten Stille. Er pflegt zahlreiche Korrespondenzen, schreibt Bücher. Das Buch Zeiten der Stille bündelt Aufsätze und Gedanken von Merton. Die begleitenden Worte des Herausgebers B. Schellenberger halten sich stets in der wenig geschmeidigen Verbeugung vor dem Meister. (Dagegen hält H. Sommer in dem Sammelband Die bedeutendsten Mystiker nicht hinter dem sprichwörtlichen Berg, auf Ungenauigkeiten in den Schriften von Merton derart harsch hinzuweisen, dass die Kritik einer satten Majestätsbeleidigung gleichkommt.)

Unmittelbar nach einem Vortrag, den Merton viele Flugstunden vom Kloster entfernt in einer Großstadt hält, stirbt der Geistliche. Seine letzte Ruhe findet er im Garten des Klosters. Heute noch, so erzählt man, könne man einen Fink beobachten, der an manchen Tagen auf jenem Stein sitzt. Als wäre dies der Platz, den der Vogel lange gesucht hat, putz er sich ausgiebig und schaue ziellos umher. Es dauere, heißt es weiter, bis man bemerkt, dass der Vogel, der für seine ungebremste Schwatzhaftigkeit bekannt ist, keinen Ton von sich gibt, dass er schweigt.


22.08./04.09.2016

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DUNST
und andere unheimliche Geschichten
von Stefan Grabinski, dt. 1989

Als Grabinski im Jahr 1887 das Licht der Welt erblickte, waren in seiner Heimat die ersten Gleise verlegt, auch die ersten Eisenbahnen rollten bereits durch Polen. Dem Autor war es jedoch vergönnt, den rasanten Ausbau des Streckennetzes nebst den damit verbundenen Begleiterscheinungen zu erleben. Die grölenden und kolossalen sowie schwitzenden Ungeheuer aus Eisen müssen in einer Zeit, die weitaus leiser und bedächtiger als die heutige war, einen ohrenbetäubenden, ja höllischen Eindruck vermittelt haben. Die Revolution, die der Einsatz der Eisenbahn für das ausgehende 19. Jahrhundert bedeutete, war noch nicht bis zum letzten Fragenzeichen ausformuliert. Der Alltag erlebte eine Beschleunigung, die radikaler war, als viele Veränderungen zuvor. Im Schmelzen der Entfernungen rückten die Menschen zusammen, wirklich näher kamen sie sich dadurch nicht. Die Technik begann sich vom Verstand des Menschen, der bis dahin meinte, ein Rundumversteher zu sein, sprichwörtlich abzukoppeln. Nur so kann ich mir die Affinität des Autors erklären, in einer Vielzahl seiner Geschichten die Eisenbahn als Umgebung seiner unheimlichen Geschehnisse zu wählen.

Unheimlich sind die Geschichten, weil sie anders sind, nicht weil sie mit Schockelementen hantieren. Grabinskis Fantasie, so schräg sie an manchen Stellen ist, bewegt sich nie auf dem Terrain der Unmöglichkeit. Alles ist überhöht und überspitzt, gerade deshalb ist alles ungemein realistisch. Um sich mit dem Schaffen des polnischen Autors vertraut zu machen dient der Band Dunst hervorragend.

Nebenbei: Dass Übersetzer in einem Nachwort zu ihrer Arbeit Stellung beziehen, ist zu begrüßen. Sie, die Übersetzer sind es, die einen Text übertragen und damit für den fremdsprachenunkundigen Leser einer unerlässlichen Arbeit nachgehen. Dass sie aber ebenso aufrichtig bekennen, programmatisch in die Vorlage eingegriffen und gleich einem Lektor geändert oder/und gekürzt haben, war mir neu.  

18.08.2016


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PERMAFROST
von Oeivind Hanes, dt. 2001

Hanes stammt aus Norwegen, er schreibt Romane und komponiert. Im Mittelpunkt von Permafrost steht die Suche nach dem eigenen Vater. Auf einer Auslandsreise wird mitten der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts ein Wissenschaftler zurück in die Heimat Litauen beordert. Die Familie, die mit dem Vater in Oslo weilte, bleibt zurück. Man macht sich so seine Gedanken, versucht das Schlimme auszublenden. Nach dem Tod der Mutter findet der Sohn einen Brief. Darin teilte ein ehemaliger Kollege des Vaters der Mutter mit, dass ihr Mann nach der Flucht aus einem Lager gestorben ist.

Der junge Mann fühlt sich vor dem Kopf gestoßen. Weshalb hat ihn die Mutter nichts von dem Brief gesagt? Warum verschwieg sie ihm zeitlebens diese Nachricht? Aufgewühlt und fragend macht er sich nach Russland zur Spurensuche auf.

Der Permafrost konserviert die Toten im Bauch der Taiga. Will man die entdeckten Leichen bestatten, setzt man sie dem Verfall aus: innerhalb kürzester Zeit verlieren sie jegliche Form. Das Vergangene ist nicht tot; es nicht einmal vergangen. Die Diktatur balsamierte seine Opfer, als rühmte sich das System seines Umgangs mit seinen Bürgern. Erst die Freiheit und mit ihr die feinen Regungen der Menschlichkeit zerstört die Überreste.

Das Buch überrascht mit einem eigenwilligen Stil und einem unerwarteten Schluss.   

13.08.2016
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IN ANDREWS KOPF
von E.L. Doctorow, 2014, dt. 2015

In seinem letzten Buch erzählt Doctorow die Geschichte des Kognitionswissenschaftlers Andrew. Die Berufsbezeichnung ist an dieser Stelle wichtig, da Andrew oder der, der seine Geschichte stellvertretend erzählt, im Buch sehr oft und sehr ausgiebig diese relativ junge Wissenschaft anführt.


An manchen Stellen geht es In Andrews Kopf urkomisch, gerade dort, wo Andrew mit seinem Psychiater plaudert. Dann wieder gibt es ernste, nachdenkliche Töne. Die amerikanische Wunde vom September 2001 wird auch hier behandelt (siehe u.a. der Roman Falling Man von Don DeLillo).

Ebenso wenig geradlinig, wie das Leben von Andrew verläuft, so sprunghaft ist die Erzählweise des amerikanischen Altmeisters Doctorow. Auch kann man sich nie ganz sicher sein, was ist jetzt Fakt, was Erfindung. Und so bleibt der ganze Romanfluss in der Schwebe.

27.07.2016

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DEZEMBER
von Alexander Kluge und Gerhard Richter, 2010


Um es gleich zu sagen: Ich kann es nur wärmstens empfehlen, sich die 39 Geschichten und 39 Bildern, die der Band Dezember beinhaltet, in der Hochzeit des Sommers zu gönnen.
 

Kluge und Richter sind beide Jahrgang 1932. Sie gelten als Meister ihres Fachs. Kluge ist der ungemein gebildete Filmemacher und Geschichtenerzähler, Richter dagegen jener Maler, der in allen großen Häusern ausstellen durfte. Dass seine Bilder zu Summen gehandelt werden, die jede Vorstellungskraft sprengen, erhöhte sicher auch noch seine Popularität, mag aber nicht unbedingt als Indiz für Qualität gelten.

Die beiden Herren also fanden Silvester 2009 zusammen und widmeten dem Wintermonat Dezember ein paar nachdenkliche, wie überraschende Anekdoten sowie dreimal dreizehn Fotografien, die jene oft verhüllte Farbigkeit des Winters mittels Schwarzweißbilder einfangen.


23.07.2016

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DAS ALLER LETZTE GEFECHT
von Wolfgang Pohrt, 2013

Pohrts Streitschrift rechnet ab, zieht blank und lässt einstürzen. Pohrts Kapitalismuskritik wird nur schlüssig mit seiner Linkenkritik. Wie Pohrt als ehemaliger Konkret-Autor über linkes Gedankengut herzieht, ist gewöhnungsbedürftig und stellenweise schwer verdaubar. Beim Lesen von Das aller letzte Gefecht drängte sich mir immer wieder der Spruch von den Kritikern der Elche auf.

Ungewöhnlich hart geht Pohrt mit dem Gedanken an die heile Welt ins Gericht, keinen Stein belässt er auf dem anderen. Alternativen aufzuzeigen ist seine Sache nicht. Da war einst Rudolf Bahro mutiger. Oder auch versponnener. Pohrt geht es um eine die Tiefe meidende Bestandsaufnahme, so überzogen und polemisch sie auch sein mag.

15.06.2016

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DIE FRAU IM DUNKELN

von Elena Ferrante, 2006, dt. 2007

Elena Ferrante ist ein Pseudonym, bis heute weiß man nicht, wer die Schriftstellerin ist. Es gibt auch Stimmen, die meinen, Ferrante sei ein Mann. Dass sich Autoren in der heutigen Zeit der Öffentlichkeit derart robust entziehen können, ist beachtlich.

Die Frau im Dunkeln ist eine erfolgreiche Universitätsgelehrte, die ein paar Tage am Strand verbringt. In dem die Frau von ihrem Sonnenschirm eine Familie beobachtet, erinnert sie sich an ihre Kindheit, an ihre Jugend und an ihre Zeit, als sie zwei Kinder und ihren Mann verlässt.
Das Buch erzählt von einer Frau, die eine Krise erlebt. So unverständlich die eine oder andere Handlung der doch so belesenen Frau ist, die Geschichte fesselt von Beginn. Es ist wie bei einem Unfall auf der Straße: Man ahnt, dass das, was man sieht, nicht gut für einen ist, dennoch kann man seinen Blick von der Katastrophe nicht abwenden.

26.06.2016

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LITTLE BIRD

von Camilla Way, 2009, dt. 2010.

Little Bird ist nach Schwarzer Sommer von 2008der zweite Roman der Amerikanerin. Elodie wird als zweijähriges Kind entführt und verbringt ihre Kindheit fortan mit einem stummen Mann fern ab der Zivilisation tief im Wald. Als der Mann stirbt gelangt das Mädchen in die Fänge einer Psychologin, die an ihr, dem weiblichen Kaspar Hauser, ein wissenschaftliches Exempel statuiert. Dumm nur, dass der leibliche Sohn der Ärztin herzlos und unverstanden in ein Internat abgeschoben wird.

Erst ab Seite 231 kommt das Buch Little Bird in Schwung, hier und da fesselt es sogar. Doch es folgen immer wieder lange Passagen, die sich wortreich der Erörterung sämtlicher Nebennebennebenschauplätze ergehen. Da zündete der erste Roman eher, auch wenn der nur – oder deshalb – etwas über zweihunderten Seiten zu bieten hatte.


09.06.2016

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EIN SONNTAG IM SOMMER
von Jonathan Littell, 2009

Die vier kurzen Erzählungen erklären sich wohl am besten, wenn man um des Autors rege Reisetätigkeit für Hilfsorganisationen weiß. Bosnien, Afghanistan, Syrien, Tschetschenien sind nur vier von mehreren Ländern, die Littell als Journalist oder Helfer aufgesucht hat. Ein Sonntag im Sommer mag als zarter Gegenentwurf zu dem 2006 erschienen Mammutwerk Die Wohlgesinnten stehen. Schuf Littell im gerade genannten Roman eine Welt mit realen und fiktiven Menschen, die dem System des sogenannten Tausendjährigen Reichs auf verschiedene Arten dienten, kommen in den vier Études Erfahrungen des Autors zur Sprache.


01.06.2016

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MÜTTER UND SÖHNE
von Colm Tóibin, 2006, dt. 2009

Mit Mütter und Söhne legt Tóibin zehn Erzählungen zu einem reizvollen und wohl noch lange nicht ausgeschöpften Thema vor. Obendrein ist es ein Thema zu dem jede und jeder etwas beitragen kann. Tóibin ist ein irischer Journalist, Bühnenautor und Romancier.
Mütter und Söhne ist ein Kaleidoskop der höchst unterschiedlichen Aufstellungen. Einmal erzählt Tóibin die Geschichte aus der Sicht des Sohnes (‚Der Gebrauch der Vernunft‘), in einer anderen Geschichte ist es die Mutter, die ihren Sohn begleitet (‚Ein Priester in der Familie‘). Tóibins Mütter und Söhne gehen liebevoll und zärtlich, aber auch rau und eindringlich miteinander um. Die Bandbreite der Emotionen ist vielschichtig – wie im richtigen Leben.

1861 erschien von Iwan Turgenjew der Roman Väter und Söhne, jener epische Wurf, der gesellschaftliche Konflikte der Zarenzeit wie die Weltanschauungen der zumeist begüterten Handelnden aufgriff. Legt man die Bücher Väter und Söhne und Mütter und Söhne nebeneinander, fällt einem rasch auf, dass sich Söhne nicht selten mit einer gehörigen Portion Verachtung vom Vater trennen, oder zumindest dies versuchen. (An dieser Stelle lässt Dr. Freud herzlich grüßen!)

Ganz anders bei der Mutter. Hier verläuft die Abnabelung der männlichen Nachhut selten klar und eindeutig, radikale Schnitte bleiben in der Regel aus. Die Lösung (von der Mutter sowie des Problems) pendelt eher – und dies häufig ein Leben lang –  zwischen Anstand und Opposition, Aufbruch und Resignation.

09.05.2016

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DIE KÄLTE IM JULI
von Joe R. Lansdale, 1989, zweite dt. Übersetzung 2015

Lansdales Roman um den Familienvater und Kleinunternehmer Richard Dane spielt in Texas. Also weit weg vom deutschen Leser. Dennoch gelingt es Lansdale auf den ersten Seiten einen Einbruch als das zu schildern, was er ist. Ein unbefugtes Aufsuchen von Lebensräumen, die zuvor als geschützt galten. Danach ist für den Betroffenen nichts mehr wie früher. Die Empfindung schlägt heftig zwischen Verbarrikadieren und Wohnortwechsel. So oder so: Die eigenen vier Wände werden fremd.

Knapp vor einem Monat wurden die neuesten Zahlen veröffentlicht. Im Jahr 2015 gab es in Deutschland ca. 167.000 Einbrüche. Dies bedeutet einen Anstieg um fast 10 Prozent zum Vorjahr.

Texas mag weit weg sein. Was den nächsten Einbruch angeht, mag der heute noch im Nachbarhaus über die Bühne gehen.

Was sich zunächst anschickt, ein klassischer Roman über Vergeltung zu werden, kippt Die Kälte im Juli rasch. Kaum hat Dane den Einbrecher erschossen und macht sich daran, seine Tat zu verarbeiten, also diese zu rechtfertigen, schließlich hat er in Notwehr gehandelt, meldet sich der Vater des Toten. Auf dem Gipfel rivalisierender Väter, entpuppt sich das Opfer als ein anderer.

In Die Kälte im Juli beschreibt Lansdale gekonnt das Urgrauen der modernen Zivilisation, welches sicher nicht nur unter der Sonne von Texas wuchert: der feine Riss eines gediegenen Lebens einer mittelständigen Familie.
Lansdale schreibt derb und flott. Kein geringerer als Daniel Woodrell lobt seine Bücher. Manchmal greift Lansdales Sprache tief unter die Gürtellinie. Und wenn seine Sprache noch tiefer gräbt, fischt sie ein solch schmutziges Wort wie Hundesohn hervor.


22.04.2016
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DIE ABENTEUER DES KORNÉL ESTI
von Dezső Kosztolányi, 1981, dt. 2006

Viele namhafte Autoren hat die ungarische Literatur hervorgebracht. Márai, Kertéz, Dalos, Konrad, Esterházy und eben Kosztolányi. Jedem war bzw. ist eine sehr eigene Handschrift vergönnt (gewesen).
Dezső
Kosztolány war Lyriker, Übersetzer und erster PEN-Präsident seines Landes. Er lebte von 1885 bis 1936. Mit seinen Geschichten um den altklugen wie liebenswürdigen Welterkunder Kornél Esti sind dem Autor wahre Perlen kurzweiliger Minigeschichten geglückt. Lebensphilosophische Traktate, die sich selten über drei Seiten erstrecken. Stets nachdenklich und herrlich komisch. Die Gefahr ins Anekdotische zu rutschen entgeht Kosztolányi auf virtuoser Weise. Er holt aus, steckt romanhaft sein Terrain ab, um im nächsten Moment den Erzählfluss schier abzubremsen. Die Geschichten gleichen Liedern, die mit einer überschaubaren Melodie auskommen. Belanglos mag man nach dem ersten Ton urteilen. Doch beim Versuch des Nachträllerns scheitert man kläglich, zu verzwickt sind die Noten gesetzt. Durch ihre nur scheinbare Harmlosigkeit rütteln die Geschichten liebevoll und empfindsam an den Grundfesten des Mit- wie Gegeneinanders.

19.04.2016
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JACK DER BÄR
von Dan McCall, 1974, dt. 1981

Dan McCall, dessen Bücher aus mir unerfindlichen Gründen aus den deutschen Buchläden verschwunden sind, erzählt Familiengeschichten. Dabei schaut McCall hinter die Fassaden. Seine Familien sind stets unfertige, suchende und vor allem dezimierte Gebilde. Wie in Triphammer, des etwas anderen Polizeiroman aus dem Jahr 1989, lebt in Jack der Bär ein verwitweter Vater mit seinen Kindern zusammen. In beiden Büchern tun die Väter, was sie können, damit ihre Kids anständige Bürger werden. Das das Unterfangen kein Leichtes ist, dürfte selbst dem überzeugtesten Junggesellen geläufig sein. Allein über die Frage, was einen anständigen Bürger ausmacht, lässt sich mindestens einen verregneten Sonntag lang diskutieren. Am Ende des Diskurses bei Kaffee und Kuchen wäre man einer Definition um wichtige Meilen näher gekommen. Und man hätte mal wieder miteinander gesprochen.

In Jack der Bär erzählt McCall das Mühen eines Vaters aus Sicht eines Dreizehnjährigen. Schonungslos und voller Liebe begleitet der Sohn die Irrungen und Wirrungen seines Vaters, der, um für seine Vorbildfunktion gerecht zu werden, auch mal zu wenig vorbildlichen Mitteln greift.
Beide Romane, Jack der Bär und Triphammer, wurden von Harry Rowohlt übertrage
n.

18.04.2016

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ELF ARTEN DER EINSAMKEIT
von Richard Yates, 1962, dt. 2006


Der Band enthält elf Geschichten, die man getrost in der Bahn oder im Garten lesen kann. Taschentuchalarm besteht keiner. Die Stories ziehen einen nicht ins emotionale Tief, sie belassen einen am Ort. Und doch bewegen sie. Ihre Leichtigkeit verwirrt.

Yates Menschen sind gebeutelte, aber keine verzweifelte Existenzen. Sie stehlen sich nicht nachts auf eine Brücke, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Indem sie springen. Yates Menschen vermitteln kaum den Eindruck, an ihrem Alleinsein zu kranken. Ob ihnen ihr Seelenzustand bewusst ist, kann an manchen Stellen in Frage gestellt werden.

Kürzlich las ich von einer Studie, wonach sozial aktive Menschen länger leben als Einzelgänger. Einsamkeit sei, hieß es weiter, ebenso schädlich wie das Inhalieren von fünfzehn Zigaretten täglich.

Yates Menschen sind keine Einzelgänger, sie gehen ihren Weg nur allein. Als Leser meint man sie bestens zu kennen: Der Familienvater von nebenan. Die Lehrerin der Tochter. Die Sprechstundenhilfe des Kardiologen. Sie leben neben und mit einem. Klaglos verrichten sie ihr Tagwerk, für die Mühen, die sie aufbringen müssen, haben sie kein Grummeln übrig. Und doch tragen sie bei ihrem Tun den Mantel Einsamkeit, der jedem schmückt, wenn auch in unterschiedlicher Qualität. Kein Mensch kennt den anderen, postulierte vor Jahren ein deutscher Artenschützer der Einsamkeit. Jeder ist einsam. Yates Geschichten unterstreichen Hermann Hesses Gedanken in unterhaltsamer, kurzweiliger Form.


23.03.2016


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TOMATO RED
von Daniel Woodrell, dt. 2001, 1998

Wenn ich in diesen Tagen Bilder vom amerikanischen Vorwahlkampf verfolge, habe ich oft das Gefühl, einem Footballspiel beizuwohnen. Was sich da im Fernsehen entpuppt, verstehe ich nicht. Weder begreife ich die Regeln, nach dem der Tumult abläuft, noch leuchtet mir der Grund für die ganze Hysterie ein. Menschen, die wie wild Fähnchen und Schildchen schwenken. Dann Männer, die vom Wind aufgebauschte Kostüme tragen und sich wegen einer läppischen Kugel in die Wolle kriegen. Dann wieder eine Frau und andere Männer, die geifernd und kurz vor der Ohnmacht von der Bühne ins Publikum zeigen. Alle, die auf und die vor der Bühne erwecken bei dem Spektakel den Eindruck, als hätten sie zuvor Omas Hausapotheke geplündert und sich sämtliche Tabletten eingeworfen.

Tomato Red gehört zu den frühen Romanen von Woodrell. Auf den knapp zweihundert Seiten findet sich bereits, was sich in den späteren Werken in variierter Form wiederholt – ohne jemals zu langweilen: Das glücklose wie bemühte Aufbegehren von Menschen, deren einzige Wahl vor dem Kühlschrank stattfindet. Eine weitere Flasche Bier? Oder gleich die Flasche mit den schnelleren Umdrehungen. Anderen Wahlen bleiben Woodrells Menschen in der Regel fern. Und es käme einem Wunder gleich, wenn sie von ihrem demokratischen Recht Gebrauch machen wollten, hätten sie denn die Zeit dazu. „Soll das ein Witz sein, Kumpel? Nenn mir einen Grund, weshalb ich in die Stadt fahren und in eins dieser miefigen Wahlbüros gehen sollte. Schwitzen kann ich auch hier. Und dabei muss ich mich nicht mal umziehen.“

T
omato Red ist, wie alle Bücher von Woodrell, das passende Gegenstück zum amerikanischen Vorwahlkampf und auch zu einem Footballspiel: pointiert und geistreich.

06.03.2016

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BIG BAD CITY

von Ed McBain, 1999, dt. 2000

Ed McBain war ein sehr erfolgreicher wie ein überaus produktiver Autor. Die Aufzählung der von ihm verfassten Bücher ist so lang, dass der Mann mindestens fünf Leben haben musste, bis er schließlich 2005 endgültig den Stift aus der Hand legte.

In Big Bad City haben die Ermittler des 87. Polizeireviers den Mord an einer Nonne* aufzuklären. Daneben fahnden sie nach einem Einbrecher, der auf seinen Touren den Geschädigten eigens für sie gebackene Kekse hinterlässt. Den Dieb spüren die Cops rasch auf, da er einen Tatort unglückerlicherweise statt mit seinen Leckereien ausreichend mit DNA-Spuren schmückt. Dafür zieht sich die Aufklärung des Todesfalls hin. Zu verwinkelt und verworren sind die Hintergründe der Toten, die Brustimplantate trug und in einer Rockband sang.
Auf diversen Internetseiten wird Big Bad City im Vergleich zu anderen Romanen von McBain als nicht besonders spannend bewertet. Wie spannend müssen die anderen Bücher sein, wenn ich schon dieses Buch nicht aus der Hand legen konnte? Die Ermittler wie die Bösewichter sind beängstigend durch glaubhafte Studien. Die Dialoge, deren Witz aus dem absurden und ebenso brutalen Alltag entspringen, liegen meilenweit entfernt von den Wortgefechten, mit dem manch hochgelobter Fernsehkrimi trefflich unterhält. Und als schillernde Folie des ganzen Geschehens atmet, schwitzt und hyperventiliert eine namenlose Stadt, die niemals schläft.

*) Dass der Autor oder der Übersetzer eine Nonne mit einer Ordensschwester gleichsetzt bleibt fehlerhaft, auch wenn beide Begriffe anderenorts in halsstarriger Konsequenz als Synonyme gelten.

22.02.2016

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SILBERPFEILE

von Walter Kappacher. 2000/2009

Ein junger Sportjournalist entdeckt in einem Seniorenheim den ehemaligen Motorexperten Paul Windisch. Die Berichte des alten Mannes über die Rennfahrten und Unfälle vor dem Zweiten Weltkrieg, bringen den jungen Schreiberling auf die Fährte einer möglichen Enthüllung. Einmal im Erzählen plaudert der Senior bald von seiner Arbeit in einem Rüstungsbetrieb in der Nähe eines Konzentrationslagers. Und der Journalist muss nicht nur seine geplante Story überdenken.

Für jeden Rennsportfreund bietet das Buch Silberpfeile reichhaltige Schilderungen von rasanten Touren und hochkomplexen Details automobiler Technik. Für einen Leser, der nicht mal eine Fahrerlaubnis sein eigen nennen kann, ist das Buch über weite Strecken eine ziemliche Herausforderung. Dass sich Walter Kappacher, Büchner-Preisträger von 2009, in seinem Roman auf zwei Protagonisten konzentriert, verleiht der Handlung eine klare Übersicht. Bei einem höheren Personalaufgebot wäre ich wohl beim Lesen rasch in Schieflage geraten und in einer der nächstbesten Kurve ausgeschert.

Auf einem der stadteigenen Fernsehkanäle läuft hin und wieder eine Werbung einer großen Hilfsorganisation. https://www.youtube.com/watch?v=6jzx3Ovu5zs

Man sieht ältere Menschen, dann wieder jüngere Menschen. Irgendwann wird klar, dass in dem Spot die alten getrennt von den jüngeren Leuten im Bild erscheinen. Als würden beide Generationen auf unterschiedlichen Planten leben. Oder auf verschiedenen Etagen eines Hauses. Der wortarme Film macht innerhalb einer reichlichen Minute deutlich, dass wir mit den älteren Menschen reden sollten, solange dies noch möglich ist. Gut, dass wusste man vorher. Doch im mit Terminen bepackten Alltag kann ein solch sanfter Hinweis Wunder bewirken.

15.02.2016
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SCHUBERTS WINTERREISE
von Ian Bostridge, 2015

Als ich 2009 an meinem ersten Bühnenprogramm arbeitete, entstand ein Text über das Spazierengehen. Im Text hieß es u.a.:
Weil wir gerade so schön plaudern. Kennen Sie Schubert? Den Schubert, Franz. Also doch. Ich wusste doch, dass Lehrer im Publikum sitzen. Franz Schubert vertonte um 1827 die Texte eines gewissen Müller, Wilhelm. Dieser Müller hatte Liebeskummer. Und weil gerade keine Pistole zur Hand war und das Bloggen noch erfunden werden musste, griff er zu Papier und Feder. „Die Winterreise“. Das klang dann auch so. „Gefrorene Tränen“, „Erstarrung“, „Der greise Kopf“. Wenn es Ihnen mal wieder so richtig dreckig geht, diese Musik sollten Sie meiden. In bestimmten Regionen der Republik ist man dazu übergegangen, die CDs mit dieser Musik nur gegen Vorlage eines Gesundheitszeugnisses zu verkaufen. Depressive, Rentner und andere bedrohte Völker bekommen die CD nicht. Das hat zwar nicht die Selbstmordrate verringert. Aber die Ärzte, die die Zeugnisse ausstellen, erfreuen sich der Nachfrage. Was ich eigentlich sagen wollte. Zu Müllers Zeit bewegten sich Reisende mit einer Geschwindigkeit von drei bis sieben Kilometer in der Stunde…

Aus dem Bühnenprogramm wurde nichts. Ob das für die Menschheit ein herber Verlust war? Keine Ahnung.
Zumindest habe ich damals, anders als vielleicht der kurze Text suggeriert, Schuberts Winterreise sehr oft gehört. 2009 berührte mich diese Musik. Neben Motörhead und Black Sabbath gönnte ich mir gern auch mal sanftere Töne. Natürlich über Kopfhörer, es durfte ja keiner wissen. Die Jahre darauf habe ich Schuberts Musik vernachlässigt. Hin und wieder zuckte der romantische Nerv, aber mit überschaubarem Erfolg.
Mit Ian Bostridge, seines Zeichens Sänger und Autor, näherte ich mich wieder an die musikalische Reise durch den Winter. Und dies auf eine ganz besondere Weise. Aufmerksam und bereit für ein Um-die-Ecke-Denken spaziert Bostridge durch den Liederwald. Er liest zwischen den Verszeilen und schaut hinter jeder Note, hinter jeder Punktierung. Dabei geht Bostridge sehr subjektiv vor, die einfallsreiche, wie unaufdringliche Musik von Schubert gewinnt dadurch sogar an Glanz.

Es gab schon andere Sänger, die über die Winterreise schrieben. Dietrich Fischer-Dieskau zum Beispiel. Auch er sang nicht nur auf den großen Bühnen, er saß gleichfalls daheim am Schreibtisch und hinterließ eine Unmenge an Aufsätzen über musikalische Themen. Bostridge schöpft aus dem Fundus des heutigen Wissens. Die gesellschaftlichen Hintergründe, die bei der ersten Begegnung mit der Winterreise gern überhört werden, beleuchtet Bostridge ebenso wie das Krankheitsbild des Komponisten, der an diesem Liederzyklus selbst noch auf dem Sterbebett gearbeitet hat. 

Wenn Bostridge etwas erklärt, damaliges Gebaren etwa, was uns, dem heutigen ab- wie aufgeklärten Hörer ein müdes Lächeln abringt, verweist er auf unseren Alltag, den wir mit gleichsam seltsamen Pirouetten bestehen. Auf diesem Weg bekommt unsere auf Distanz reduzierte Strategie der Aufklärung recht eindrückliche, recht liebevolle Dellen.


23.01.2016

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ABSCHIED VON MONA LISA
von Roberto Zapperi. Dt. 2010

Wie in einem Krimi beleuchtet und hinterfragt der Historiker das Gemälde, welches wohl mit dem größten Rucksack an ungeklärten Geschichten und halbwahren Legenden aufwartet. Da ist der ungleiche Bildhintergrund. Da ist die Frage um die abgebildete Person. Weshalb dieses Lächeln? Welche Frau ist da wirklich zu sehen? Oder hat der Meister seinen jugendlichen Liebhaber porträtiert? Und wie kann der Meister das Bild gemalt haben, wenn er doch zur Tatzeit nachweislich einseitig gelähmt war?

Mag sein, dass sich Zapperis Buch nur als weiterer Baustein in jenen meterlangen Kanon einreihen wird, der sich der Entzauberung des Bildes von da Vinci verschrieben hat. Dennoch liest sich das Buch Abschied von Mona Lisa ungemein spannend und bietet eine kühne und ebenso schwer zu widerlegende Auflösung des Falls.

08.01.2016

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MAIGRET IN KÜNSTLERKREISEN

von Georges Simenon, 1967, dt. 1990

Simenons Maigret-Romane führen den Leser stets in eine Zeit, in der in Bussen noch geraucht werden durfte und das Telefon an einer Strippe hing. Es sind meist linear geschilderte Begebenheiten, die sich um die Todesfälle drehen. Das alles geschieht unaufgeregt und selten blutig. Dagegen dialogbetont und mit dem aufmerksamen Blick auf die kleinen, unscheinbaren Dinge des Alltags.

In Maigret in Künstlerkreisen begegnet Maigret in gewohnt leiser Art all den verdächtigen wie unverdächtigen Menschen einer Pariser Filmclique. Maigret umkreist, bespricht, bedenkt die Fragen, die sich durch den Tod einer jungen Frau stellen. War die Frau für die einen ein leichtes Mädchen, das unglücklich verheiratet war, wetteten andere auf ihre Karriere beim Film. Der Kommissar lässt sich von der Vielzahl an Deutungshoheiten nicht beirren. Hartnäckig und bisweilen stur folgt er seinem Gespür. Nur seine Pfeife lässt er dabei nur ungern ausgehen.

03.01.2016

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DER DRITTE BRUDER
von Nick McDonell, 2005, dt. 2006

 

Nach dem Buch Zwölf legt der McDonell eine weitere Geschichte vor, die sich vor seiner Haustür abspielt. In manchen Situationen ist er es, der handelt oder ein Handeln vorgibt. McDonell weiß, wovon er schreibt. Nur selten kommt ihm die Nähe in die Quere, die er zu dem Geschehen hat. Dabei mögen, anders als bei Zwölf, die Verwendung unterschiedlicher Stilmittel dienen. Dieses Pendeln lockert den Erzählfluss auf und verführt den Leser sich einer anderen Perspektive zu bedienen.

An einer Stelle denkt die Hauptfigur: … wenn man im Flugzeug schläft und die Maschine abstürzt, weiß man vielleicht bis zu seinem Tod nicht genau, ob man nicht bloß träumt.

Der Gedanke gefällt mir. Aber weshalb bis zu seinem Tod? Der Mensch, der im Flugzeug sitzt und durch den kühlen, dennoch wärmenden Drink wegschlummert, nimmt den Absturz der Maschine vielleicht träumend wahr. Er träumt davon, mit dem Flugzeug abzustürzen. Dieser Traum lehnt sich an die Vorstellung, dass wir unser Leben eventuell nur träumend wahrnehmen. Gewöhnlich wünscht sich der Mensch, im Schlaf zu sterben. Diese Hoffnung mag darin begründet sein, dass der Mensch auf diese Art bei seinem eigenen Ableben nicht zugegen ist. Um nichts anderes bittet Woody Allen mit seiner lapidaren Bemerkung, er hätte keine Angst vor dem Tod, nur möchte er nicht dabei sein, wenn's passiert.
Der Gedanke das Sterben widerfährt mir im Schlaf, lässt mich daran glauben, den Tod träumend zu erleben.

05.12.2015

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JOSSEL RAKOVERS WENDUNG ZU GOTT
von Zvi Kolitz, 1996, 1999

Jossel Rakovers sitzt in der Falle. Als Aufständiger hat er sich in eine Wohnung des Warschauer Ghettos verschanzt. Inzwischen ohne Munition. Um sich ehemalige Freunde und Bekannte. Alle tot. In dieser Situation wendet sich Rakovers zu seinem Gott. Die wenigen Seiten, die seine Ansprache füllen, überraschen. Fragen und Vorwürfe bleiben aus. Jossel Rakovers findet in seiner letzten Lebensstunde einen neuen Zugang zu seinem Gott. Sein Klagelied wird zum Hohelied.

Berühren die wenigen Seiten, so ist die Geschichte um die Geschichte nicht minder spannend. Jahre blieb der Autor, ein Journalist, der Rakovers Wendung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in Argentinien schrieb, ungenannt. Der Name des Autors fiel unter den Tisch. Die reale Existenz eines kämpfenden Juden passte besser ins Bild. Nur einer, der den Kampf im Warschauer Ghetto erlebt hatte, konnte solche Zeilen zu Papier bringen.

In einem erhellenden Nachwort klärt Paul Badde die Umstände des Buches auf. Und Arno Lustiger steuert seine Überlegung Zur Transkription aus dem Jiddischen bei.

02.12.2015


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IN ALMAS AUGEN
von Daniel Woodrell, 2013, dt. 2014

Im Mittelpunkt des Buches steht eine Katastrophe von 1929. Zweiundvierzig Menschen sterben bei einer Explosion. Und auch wenn der Urheber des Anschlags bald überführt ist, bleibt die Tat ungesühnt.
Woodrell erzählt die Geschichte in seinem typischen Ton kühler Berichterstattung und poetischen Beschreibungen. Wie Woodrell in wenigen Zeilen jene Schicksale von Menschen skizziert, die bei der Explosion ihr Leben verloren, ist einzigartig.

29.11.2015

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FRIEDHÖFE
von Barbara Bronnen, 1997

Der Deutsche Taschenbuch Verlag, bekannt als dtv, widmete sich bis vor einigen Jahren mittels schmaler Bände dem Thema Leidenschaft. In der Reihe ‚Kleine Philosophie der Passionen‘ gingen verschiedene Autoren z. B. dem Gärtnern, dem Segeln oder dem Bergsteigen nach. Dass sich wer den gerade genannten Freizeitaktivitäten schreibend annimmt, mag einleuchten. Anders liegt es auf dem ersten Blick bei B. Bronnen und ihrer Passion für Friedhöfe. Wer, bitte, kürt das Friedhofgehen als seine Leidenschaft? Welcher vernünftige Mensch geht freiwillig und dann auch noch mit Lust über einen Todesacker?

Natürlich sind meine Fragen rhetorischer Natur. Ich gehöre selbst zu den seltsamen Geschöpfen, die gern vorbei an Grabsteinen passieren und nach Geschichten fahnden, welche hinter den Jahreszahlen schlummern.
Bronnens Überlegungen sind persönlicher, fast privater Natur. Bronnen erzählt von ihrer Großmutter, die sie auf den Geschmack des Friedhofgehens gebracht hat. Sie erzählt von Freunden, mit denen sie über die Friedhöfe zieht, wie andere über den Boulevard. Und Bronnen erzählt von Freunden, die sie an ihren Gräbern besucht, um mit ihnen zu plauschen.
Friedhöfe ist das passende Buch für den Monat November: nachdenklich, nicht traurig.

21.11.2015

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LIEBE BIS IN DEN TOD
von Barbara Bronnen, 2008

Bronnen erzählt die Geschichte zweier Männer, die der Tod eines geliebten Menschen zusammenführt. Anselm Joos, der Richter, hat seinen Sohn verloren und muss über Emanuel Forster urteilen, der seine Frau nach einem langen Schmerzmartyrium erschossen hat. Unaufgeregt und leise kreist Bronnen die Frage um Totschlag oder Tötung aus Verlangen ein. Dabei geht die Autorin immer wieder auf den Blickkontakt der beiden Männer ein, den sie bei der Gerichtsverhandlung miteinander wechseln. Dieser Kontakt der Blicke ist trügerisch. Denn ein Gespräch auf gleicher Augenhöhe gelingt zwischen Richter und Angeklagten so noch lange nicht.

Dass ich das Buch unbewusst als Begleitlektüre parallel zur Bundestagsdebatte zum Thema Professionelle Sterbehilfe las, war, wenn auch ungemein passend, rein zufällig.

Joos wie Forster sind keine holzschnittartigen Sympathieträger. Die Herzen der Leserschaft fliegen ihnen nicht sofort zu. Joos wie Forster, zwei spröde ältere Herren, gehen ihre Wege, völlig unbeirrt, ob diese ins gesellschaftliche Bild passen. Emanuel Forster, der sechzig Jahre mit seiner Frau zusammenlebte, bis er sie mit einem Kopfschuss tötet. Joos, der mit seinem letzten Fall hadert und zweifelt, als stünde er am Anfang seiner Richterkarriere. Ist der mitleidigste Mensch der beste Mensch? fragt Joos an einer Stelle. Dass es darauf keine Antwort gibt, gehört zu den Stärken von Liebe bis in den Tod.

Der ungarische Autor Imre Kertész schreibt am 05. September 2001 in sein Tagebuch: …diese Bedenkenlosigkeit, mit der ich über den Tod rede … ist das ernst oder nicht? … Das Leiden – allein das Leiden ist ernst. Ich fürchte mich vor dem Leiden Magdas, und ich kann ihr Leid nur lindern, wenn ich mit ihr leide, und so wird es doppeltes Leid sein, für sie sowohl wie für mich. Für einen, schreibt Kertész, der nicht liebt, ist es einfacher.

07.11.2015

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SANFTES UNHEIL
von Ross Macdonald, 1958, dt. 1960

Ross Macdonald schrieb das Buch 1958. Madonna Louise Ciccone, heute als Madonna bekannt erblickte das Licht der Welt, Charles de Gaulle wurde Präsident von Frankreich und Pasternak erhielt den Literaturnobelpreis.
Macdonald erhielt zahlreiche Preise. Der Nobelpreis für Literatur blieb ihm erspart.
Macdonalds Krimis sind Familienaufstellungen. Stets geht es in seinen Büchern um die Vergangenheit, die in die Gegenwart der meist wohlhabenden Familien strahlt. Neben freudschen Erkenntnissen sind es auch gern Zutaten aus der kuschligen Küchenpsychologie, die die Buchstabensuppe würzen. Jede Figur hat seinen Schatten, hat Gründe das eine zu tun, das andere zu lassen. Dabei dienen Macdonald, getreu der Tradition von Chandler oder Hammett, die Dialoge, um die jeweiligen Charaktere zu zeichnen.

Etwas früh für einen Besuch klopft der aus Psychiatrie geflohene Carl Hallmann Lew Archer aus dem Schlaf. Und da dieser Hallmann den Detektiv niederschlägt und dessen Auto entwendet, verfolgt Archer die Spur von Hallmann. Er will sein Auto zurück und die Unschuld des vermeintlich Geisteskranken beweisen.

Am Ende von Sanftes Unheil gibt es einen seitenlangen Monolog. Dies verwundert zunächst für ein Buch, das von Rede und Gegenrede lebt. Wer diesen Monolog schließlich hält ist die eigentliche Überraschung.

02.11.2015

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UNTER NULL
Bret Easton Ellis, 1985

Es gibt sie immer wieder, jene literarische Überflieger, die kaum volljährig ihre eigene Generation in einem Buch verewigen. Bret E. Ellis gehört zur Gilde der jugendlichen Bestsellerautoren. In angesagten Foren wird der Autor als der gefeiert, der das Fundament legte, auf den Nick McDonell sein Buch Zwölf hievte. Beide Autoren werfen einen klaren, wie sachlichen Blick auf ihre Welt. Nur mit einigen Jahren der Verzögerung. Ellis 1985, McDonell 2002.

Ellis schrieb sein Buch Unter Null mit gerade mal zwanzig Jahren. Die, die im Mittelpunkt seines Romans stehen, sind in seinem Alter. Ab und an erinnert Ellis den Leser höflich daran, zu oft flieht man beim Lesen in den Wunsch, das Buch möge von Menschen handeln, deren Leben sich bereits auf der Zielgeraden befindet. Unter Null beschreibt eine kollektive Abstumpfung – lange vor möglichen Zielgeraden.

An einer Stelle des Romans sagt Alana zu Clay, dem Ich-Erzähler: „Ich glaube, wir haben alle eine bestimmte Art von Gefühl verloren.“

Diese schlichte Vermutung beschreibt den Kern der Geschichte. Unter Null zielt auf das beschränkte Repertoire von  Emotionen der Protagonisten. Sie schwitzen in L.A. vor sich hin und hausen doch in Gefriertruhen. Die junge Leute verbringen ihren Semesterurlaub in einer Art Dauerfeierschleife. Mit teuren Autos steuern sie jede erdenkliche Party an. Valium hilft ihnen, um vom Koks runterzukommen. Alle tragen Sonnenbrillen, doch nicht, weil das Wetter dazu einlädt. Die Brillen dienen der Tarnung, denn so bleiben die Augen besser verborgen. Ob der Brillenträger sein Gegenüber nun beobachtet oder ob er einfach vor sich hin döst, man sieht es nicht.

Am Ende des Buches fragt die Freundin den Ich-Erzähler, ob er sie jemals gemocht hat. „Ich will überhaupt nichts mögen“, antwortet Clay. „Wenn ich irgendwas mag, dann wird’s dadurch nur noch schlimmer, dann muss ich mir darum auch noch Sorgen machen. Und das kann weh tun, und deshalb lass ich‘s lieber gleich sein.“

05.10.2015

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STOFF OHNE ENDE
von Daniel Woodrell, 1996,1998

Hier gibt’s was auf die Mütze. Aber mächtig. Woodrells Sätze funkeln wie Rasierklingen. Die Sprache ist finster, derb und fies. Und über der Geschichte schwebt ein süßlicher Duft.

Stoff ohne Ende
ist ein überaus erdiger Blues, bei dem sich zarte Geister die Finger blutig zupfen. Zum Ende hin dreht der raue Song noch mal richtig auf.  

Den Rest der Nacht genießt man besser in der Sonne.
Stoff ohne Ende. Allein der Titel grient doppelbödig.
24.03.2015