In den Tiefen des Alltags
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22.05.2024
FUNKTIONSKLEIDUNG
Pendelt das Wetter zwischen morgendlicher Herbstfrische und sommerlicher Mittagshitze und gibt sich unentschieden, entscheiden sich junge Männer schon mal für die kurze Hose. Die Snowbirds* favorisieren dagegen die sog. Funktionskleidung. Meist handelt es sich hierbei um Westen. Also Übergangs-Jacken, für die es zu Ärmeln nicht gereicht hat. Das aber scheint den Trägern wenig zu stören. Während das Beinkleid gern flauschig-wattiert ist, ragen die Arme nackt aus Hemd und Weste.
Die Bekleidung muss in erster Linie funktionieren. Dies vermittelt bereits ihr Name. Schön muss sie nicht aussehen. Somit fehlt ihr jede Farbe. Was für die Haare des Trägers oft ebenso zutrifft. Das Beige verbindet sich mit dem Weiß. Voller Elan zieht dieser Verbund der Tristes gegen alles Bunte zu Felde.
Frage ich einen Träger solcher Westen nach dem Grund seiner Wahl/Verirrung, ernte ich meist ein lustloses Stöhnen. Einige der Befragten meinen, es sei einfach praktisch. „Mit ihr schwitze ich nicht.“ „Und gefroren habe ich mit ihr auch noch nie.“ „Im Grunde bringt es nichts, wenn ich sie anziehe. Sie stört mich aber auch nicht. Und so habe immer was an.“
Es ist wie in einer langjährigen Partnerschaft. Dem Partner, mit dem man nach so vielen Jahren verheiratet ist, hätte man früher garantiert den Zugang zur Küche verwehrt. Aber was soll man machen? Ist doch gut, dass sich der Mensch ändert. Und außerdem: Man ist nun mal zusammen.
Was der Weste an schützendem Stoff für die Arme mangelt, findet der Stoff an Überfluss bei den zahlreichen Taschen. Doch was schleppt der Funktionskleidungsträger in seinen 1001 Taschen? Sind es seine Rentenbescheide? Sind es die handlichen Terminkarten der Fachärzte? Oder etwa die Standtermine der fliegenden Händler, die Funktionskleidung zu fulminanten Funktionspreisen anpreisen? Schließlich muss eine Weste irgendwann in die Wäsche. Und da macht es sich gut, liegt eine Ersatz-Weste bereit. Auch die farblos-blass, mit einem prägnanten Reißverschluss mittig und den unzähligen Taschen auf Brust- und Hüfthöhe. (Die Westen mit geräumigen Rückentaschen konnten sich bei den Kunden nicht durchsetzen.)
*) Als Schneevögel werden in den USA jene Pensionäre genannt, die jedes Jahr vom Norden in den Südwesten fliehen, um der frostigen Monate in ihrer Heimat zu entgehen.
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