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Volkmar Wirth 

 

 

In den Tiefen des Alltags


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14.07.2024

BEKANNT

Ich stand an der Haltestelle. Die Frau, die die ganze Zeit schweigend neben mir wartete, sprach mich plötzlich an: „Waren Sie das nicht, der hier an dieser Stelle am zehnten April 1971 zu seiner Mutter sagte, er müsse ganz dringend auf die Toilette.“
„Stimmt“, sagte ich, „aber nur, weil ich schon immer auf Toilette muss, wo es kein WC gibt.“

Ich schwieg bedeutungsvoll und schaute in die Ferne. Das kann ich gut. Darin bin ich ein regelrechter Meister. Sollte jemals bedeutungsvolles Schweigen und das In-die-Ferne-Schauen als olympische Disziplinen anerkannt werden, ich trete an. Und werde Sieger.

„Und Sie sind die Frau, die an einem sehr warmen Tag im Mai 1852 mit Ihrem Vater hier entlang kam und in einem Strauch eine Schlange vermutete. Dass Ihr Vater meinte, hier gäbe es keine Schlangen, hat Sie damals nicht wirklich beruhigt.“

Das wollte ich sagen. Das lag mir auf der Zunge. Dennoch behielt ich es für mich. Einmal, weil die Frau auf mich einen, wie soll ich sagen, labilen Eindruck machte. Außerdem bog die Bahn um die Ecke.

„Es war keine Schlange“, belehrte mich die Frau, „es war ein Krokodil.“
Was soll ich sagen? Die Frau lag erneut richtig. Klar doch, es war ein Krokodil! Sie hatte damals ein Krokodil gesehen. Wie konnte ich das vergessen?



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