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Volkmar Wirth 

 

 

In den Tiefen des Alltags


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19.07.2023

SCHNEEGEBIRGE

Ich lag in einem der Räume, in denen die Patienten zur OP vorbereitet werden. Eingehüllt in eine grüne Plane, dazu festgeschnallt und eine Haube auf dem Kopf, hoffte ich, bald in den großen Saal mit den großen Lampen zu kommen. Die Bescherung möge beginnen.
An meinem linken Arm suchte eine Frau meine Vene. Die Nadel sollte mich in ein paar Minuten in einen tiefen Schlummer versetzen.
„Und in dem Schneegebirge, fließt ein Brünnlein fein.“
War es die Stimme oder der Umstand, dass die Frau sang, das Lied vom Jungbleiben beunruhigte mich. Um sicher zu gehen, noch im richtigen Film zu stecken, sagte ich: „Geben Sie zu, weil Sie keine Vene finden, wollen Sie mich in den Schlaf singen. Gute Idee, wobei ich ihr Repertoire doch etwas fragwürdig erachte.“
Ich sagte wirklich Repertoire und erachte. Vielleicht schwebte ich längst auf einer Narkosewolke, ohne es zu wissen.
Die Frau entschuldigte sich. „Ich muss immer singen. Immer. Schon als Kind, schon damals musste ich ständig singen. Ich merke das schon gar nicht mehr.“
Im Aufwachraum dämmerte ich eine Weile vor mich hin. Diesmal hatte ich es nicht eilig. Im Gegenteil, ich hatte Zeit. Gern wollte ich meinem Traum nachhängen. Ich hatte geträumt, mit der Venenfrau durchs Schneegebirge zu wandern. Als ich nach ihrer Hand griff, lachte die Frau und zeigte auf ein vermülltes Erdloch.
„Hier war sicher der Brunnen“, stellte die Frau fest.
Ich war enttäuscht, ich war mächtig enttäuscht. „Und nun?“, fragte ich.
„Und nun?“, sagte sie. „Nun werden wir doch alt.“

Ich gab dem Oberwachmann ein Zeichen, denn jetzt wollte ich aufs Zimmer. So schnell wie möglich.






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