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Volkmar Wirth 

 

 

In den Tiefen des Alltags


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21.08.2023

KARL

Karl war mir schon immer einen Schritt voraus. Seinen Roman beendete er mit zwanzig. Doch mit vierzig hatte er noch immer keine Zeile zu Papier gebracht. Sein Haus existierte auf losen Zetteln. Und den Lottogewinn erhoffte er jeden Samstag.

Karl ist ein Schaumschläger. Vielleicht ist er auch nur ein Kind. Ein großes Kind. Eines, was ziemlich früh sämtliche Haare und den Boden unter den Füßen verlor. Nicht aber die Flausen, die hat er behalten. Das Buch, das Haus, der Lottogewinn. Das ist Karl. Eine Weile schlief er auf Parkbänken. Inzwischen hat er ein Bett in einer Notunterkunft.

Heute traf ich Karl wieder. Wir brauchten keine Minute, bis er mir offenbarte, dass er seit zwei Jahren tot ist. Blutvergiftung oder Lungenentzündung, er ist sich nicht sicher. Nur eben die Beerdigung sei noch offen. „Weißt doch wie das ist, wenn du mal rasch eine Trauerfeier brauchst, musst du warten. Alles voll. Keine Termine. Oder ist es dringend? Nee, ist nicht dringend! Also warte ich, was
soll´s, ich habe Zeit, ich bin ja schon tot.“

Karl hat ein sonniges Gemüt. Schon immer. Selbst als Toter war er mir einen Schritt voraus. Deshalb ließ ich ihn ziehen. Eine Weile versuchte ich, mich an seine Fersen zu heften. Nichts zu machen. Er hielt mich auf Trab und ich keuchte. Wie gesagt, Karl war mir schon immer einen Schritt voraus.



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